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Mir selber seltsam fremd: Russland 1941-44

Willy Peter Reese

Das Buch von Willy Peter Reese über seine Soldateneinsätze in der Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges ist wie eine in der Wüste vergrabene Textmine, die nach ein paar zufälligen Winden eines Tages wieder zum Vorschein kommt: Niemand wollte es damals, als sein Autor (1921–1944) noch lebte, veröffentlichen, und so lag das Manuskript fast sechs Jahrzehnte unbeachtet herum, bis es 2003 endlich im Claassen-Verlag erschien.
Ich selbst habe vom Autoren erst zwei weitere Jahrzehnte später erfahren: In einer Fernsehdokumentation zitierte man aus seinem Werk, und der lyrische Ton dieser Textstellen machte mich sofort neugierig auf den Menschen und seine literarische Hinterlassenschaft.

Was heißt es, Soldat zu sein?
Kriegsliteratur hat ja leider Konjunktur, und das nicht ohne Grund: Nachdem Russland seinen vollumfänglichen Angriffskrieg gegen die Ukraine am 24.02.2022 gestartet hat, wollen viele den Krieg an sich und seine Realität auch mittels historischer Literatur verstehen, und so verwundert es nicht, dass beispielsweise in der Ukraine plötzlich ein Text von Ernst Jünger, nämlich «Der Kampf als inneres Erlebnis» (1922) in einer Übersetzung erscheint und Leser findet.
Was heißt es, im Krieg Soldat zu sein, im Schützengraben zu leben, gegen Vertreter einer feindlichen Macht zu kämpfen? Diese alten Texte können uns eine ungefähre Antwort darauf geben, auch wenn sich die Militärtechnik weiterentwickelt hat und das Böse unter anderen Namen auftritt.

Der Krieg als ästhetisches Erlebnis
Den Text von Ernst Jünger habe ich nicht ohne Grund angeführt, denn es ist offensichtlich, dass Willy Peter Reese neben Friedrich Nietzsche und vielen anderen auch von diesem Autoren inspiriert wurde. Reeses Manuskript hätte den Titel «Der Krieg als ästhetisches Erlebnis» tragen können, denn in der Erzählung seiner Kriegserlebnisse probiert er genau das: Der Teilnahme am furchtbaren Vernichtungskrieg einen Sinn abzugewinnen, indem er ihn ästhetisch umzudeuten versucht und zu Literatur macht. Natürlich muss dieses Unterfangen des Viellesers und -schreibers scheitern, weil sich beide Welten gegenseitig ausschließen: Im Krieg ist weder Schönheit noch erhabene Kunst zu finden, jede Stilisierung bricht elendig in sich zusammen, jeder hohe Ton wird zu einem unerträglich kreischenden Missgeräusch. Am Ende kann dann nur ein unstimmiges und zerrissenes Bild stehenbleiben – allerdings kann auch dieses einen Wert haben.

Kein Gott wohnte auf den Schlachtfeldern
Was geschieht mit Reese im Krieg? Er stumpft allmählich ab. Anfangs berichtet er noch darüber, wie er ihm widerstrebte und nicht dem entsprach, was man über ihn so erzählte:

Zitat:

Ich wollte meine Schicksalsjahre nicht. Alle Kräfte und Mächte im Innern weigerten sich, das Fremde, Feindliche einzulassen. Die Zukunft blieb eine Hölle, und die Bereitschaft milderte Angst und Mühsal nicht. Mir half nur mein Dulden und Hoffen. Denn nichts Schönes, Erhabenes und Reines gedieh im Niemandsland, kein Gott wohnte auf den Schlachtfeldern, im Schützengraben starb auch der Geist. Nur der Tod herrschte im Krieg. Das Beste in mir musste untergehen, und der Verfall zeitigte nur verworfene Frucht. Wenn ich einst heimkehrte, stand ein anderer Mensch vor dem Spiegel, ein Verwandelter, Zerstörter, Gezeichneter für alle Zeit. Dann trug ich das Brandmal des Todes, und mit den Toten führte ich ein Gespensterdasein in Zwielicht und Nacht.


Stärker noch hören wir die Verzweiflung des jungen Autoren, der keinen Weg aus seinem Schicksal sieht, und der ergreifend konstatiert, wie schrecklich es war, in dieser Welt des Todes und der Vernichtung zu leben, aus dieser Textstelle:

Zitat:

Das Leben war Leiden. Nur der Tod regierte die Welt. Dem Schmerz, geboren zu werden, schloss sich der Weg des Menschen an durch Mühsal, Sorge, Trauer, Angst und Not. Nur der Tod erlöste, nur die Vernichtung gab Freiheit und Frieden zurück. Es war schrecklich, in dieser Welt zu leben, in der Sinnlosigkeit, Grausamkeit und Entgötterung des Seins. Besser schien es, niemals geboren zu sein. Sintflut und Weltuntergang schufen den einzigen Trost, Zerstörung die letzte Aufgabe des Wissenden und Sehers unserer Zeit. Die letzten Götter mussten noch vergessen, die Götzen zerschlagen werden, ausgerottet die Liebe, das Zeugen vereitelt und das Leben beendet.


Der Krieg ist Reeses neue Realität, ist sein ganzes Leben und schließlich auch sein Tod. Kaum heilen seine Wunden, reist er immer wieder an die Front, er scheint sich damit abgefunden zu haben, dass alles ist, wie es ist – oder handelt es sich dabei nur um Versuche der Selbstüberredung?

Zitat:

Gott blieb mir fremd. Nur in höchster Not suchte ich ihn, trieb durch Menschenhaß und Verachtung und lernte die Liebe nicht. So musste das Schicksal mich wieder an die Grenze führen, wo Gefahr, Tod und Schmerzen, Geist, Seele und Werte erneuerten. Immer wieder kehrten Anfang und Ende der Wallfahrt, und nur der Weg vollendete das Leben.


Als Leser werden wir Zeuge eines Selbstverlustes, der dem Autor durchaus bewusst war, wenn er nämlich über sich selbst erschreckte:

Zitat:

Ich dachte nicht mehr in meiner eigenen Sprache: diese hatte mich Jünger gelehrt.


– so war ihm klar, dass er nicht sein eigenes Leben lebte, nicht einmal mehr seine eigene Sprache besaß. Auffallend in dem ganzen Buch ist, dass es eigentlich nicht um andere Menschen geht. Wir hören von Landschaften, Gefühlen, Figuren – greifbare menschliche Interaktionen gibt es nicht. Reese ist auf sich allein gestellt, lebt wie in einem Film – lebt einen grausigen Traum. Die Kameraden bedeuten ihm nichts, er bedeutet ihnen nichts.

Die Schuldfrage
Aus dem folgenden Gedicht von 1943 spricht Reeses Zerrissenheit: Einerseits werden ungeschminkt viele Verbrechen aufgezählt, welche die Wehrmacht im Krieg begangen hat, es folgt sogar ein Tatbekenntnis, zum Schluss aber die erschreckende Distanzierung:
Er habe nichts getan, er war (nur) Soldat.

Zitat:

Wir sind der Krieg. Weil wir Soldaten sind.
Ich habe alle Städte verbrannt
Alle Frauen gewürgt
Alle Kinder geschlagen
Allen Raub genommen vom Land.
Ich habe Millionen Feinde erschossen,
alle Felder vernichtet, die Dome zerstört,
die Seelen der Menschen verheert,
aller Mütter Blut und Tränen vergossen.

Ich habe es getan. – Ich tat
Nichts. Aber ich war Soldat.


An einer Stelle im Manuskript klärt Reese die Schuldfrage aber doch eindeutig:

Zitat:

Auch ich war schuldig an dieser Verwüstung und allem Leid, das sie den Menschen brachte, schuldig wie alle Namenlosen und Geopferten, wie alle Soldaten. Dass es noch mehr als Krieg gab und Flucht, hatte ich beinahe vergessen. Von meiner Heimkehr träumte ich nicht mehr.


Verbrechen, Rausch, Vergessen
Willy Peter Reese war ein junger Mensch auf der Suche, ein Talent, das noch nicht vollkommen ausgereift war, und da er im Krieg an der Ostfront starb, eines, das auch nicht mehr ausreifen konnte. Reese hat versucht, sein falsches Leben zu Literatur zu machen und uns dadurch ein einzigartiges Zeitdokument hinterlassen, das von Verbrechen, Rausch und Vergessen, einem Ringen mit sich selbst und dem häufigen Schwanken der inneren Einstellungen im Krieg berichtet. Zum Nazi-Regime verhielt sich Reese innerlich distanziert, in einem Spottgedicht schildert er Hitler als Clown und die Wehrmacht als brüllende Horde, die Juden ermordet, aber er diente ihm doch als Soldat. Für ihn war es nur die Zeit, welche verflucht war, und in der es schließlich trotz allem das beste war, Soldat zu sein.

Ein solches Urteil können wir dem Autoren nicht durchgehen lassen. Wenn wir in einer verfluchten Zeit leben, ist es unsere Aufgabe, die Menschlichkeit zu bewahren und die Zeit zu einer besseren zu machen. Das lässt sich in Worten natürlich leicht dahersagen, aber trotzdem sollte es unser Maßstab sein:

Manchmal müssen wir selber leiden, um die Summe menschlichen Leides zu vermindern.

Diese Rezension schrieb:
Arne-Wigand Baganz (2023-03-21)

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