Wenn ein Buch nachdenklich macht, ist es vielleicht ein gutes Zeichen, denn
man möchte von einem Buch ja bewegt werden, im besten Fall nach der Lektüre
ein reicherer Mensch sein als zuvor? Nicht unbedingt. Der Titel von Alexander Ikonnikows (*1974) Erzählband, wie er mir hier vorliegt, wirft jedenfalls schon erste
ernste Fragen auf: Warum heißt das 174-Seiten-Buch mit den vielen kleinen
Texten eigentlich “Taiga Blues” (dt. Übersetzung 2002), wenn es der Autor im Russischen doch “Berichte aus der Schlammzeit” nannte? Wie lässt sich diese nicht geringe Abweichung erklären? Ich gehe
nicht davon aus, dass sie direkt auf den Autoren zurückzuführen ist, obwohl
er vielleicht seine Zustimmung dazu gegeben haben mag. Hatte der deutsche
Verlag denn Angst, dass der hiesige Leser vom Originaltitel etwa auf ein
Gartenbuch (“Schlamm” könnte ja irgendwelche Gedankengänge auslösen, die
sich mit der Landwirtschaft oder dergleichen beschäftigen) schließen würde,
und hat er sich deswegen entschieden, etwas griffigeres zu suchen und
schließlich zu verwenden: Die Taiga, eines der bei uns geläufigsten
Klischees von Russland, gepaart mit dem amerikanischen Wort “Blues”, das
für eine ganz andere Welt als die russische steht? Klar, man kann es sich
so irgendwie erklären: Ein Verlag, der überleben will, muss ja in erster
Linie an das Geschäft denken, und er wird schon wissen, was er dem Markt
zumuten kann, aber das ist eben auch ein Problem: Der Originaltitel
“Berichte aus der Schlammzeit” sagt viel mehr über das Buch aus als der neu
erfundene Titel “Taiga Blues”, der Assoziationen wecken und neugierig
machen, sich wohl bestenfalls wie ein Albumtitel einer noch unbekannten
aber sehr vielversprechenden Band anhören will. Immerhin habe ich das Buch
gekauft, aber nicht wegen des Titels und auch nur gebraucht. Zurückzuführen
ist das auf den Historiker Gerd Koenen, der es in seiner Essay-Sammlung “Im Widerschein des Krieges: Nachdenken über Russland” (2023) erwähnt hat, die man eigentlich wie fast alles von ihm mit großem
Gewinn lesen kann.
Eine besondere Art der Traurigkeit?
Aber gut, wir müssen mit dem Gegebenen arbeiten und uns ernsthaft darauf
einlassen. Was will uns der abweichende Titel des Buches denn sagen, wenn
doch mehr dahinter stecken sollte als blankes Marketingkalkül? Spielt man
in der Taiga um die Jahrtausendwende, als die Texte des Buches geschrieben
worden sind, mit einem Mal mit großer Leidenschaft den Blues, diese
einfache und doch ergreifende Musik, oder geht es in den Erzählungen um
eine besondere Art der Traurigkeit, die man nur in der Taiga antrifft? Man
kann lediglich raten, ohne eine Antwort auf seine Fragen zu erhalten. Ich
verbuche den geänderten Titel daher unter der Kategorie “Westliche
Mystifizierung Russlands” – Verfälschung wäre ein härteres Wort, aber ich
muss auch zugestehen: Wir sprechen hier lediglich über die Hülle des
Buches, sein Inhalt mag ja trotz Übersetzung einigermaßen gut erhalten
geblieben sein. Psychologisch ist es jedenfalls durchaus nachvollziehbar,
dass man diese Anähnelung vorgenommen hat, denn es ist verständlicherweise
sehr schwierig, das Andersartige zu begreifen, wenn man nicht über seine
Zeichen, seine Begriffe und Wissen um seine innersten Gedanken und
Traditionen verfügt: Also versucht man, es mit den eigenen, bekannten
Mustern zu erklären – und fertig ist im vorliegenden Fall der zwitterhafte
Titel: “Taiga Blues”. Wäre das Wort “Schlammzeit” oder “Rasputiza” zu viel gewesen für den deutschen Leser? Sicherlich nicht, denn die
Schlammzeit ist in vielen Kriegen, die Russland an seiner Westfront geführt
hat oder die dort gegen es geführt worden sind, ein wirksamer Faktor
gewesen, so bei Napoleons Russlandfeldzug 1812, im Ersten und Zweiten
Weltkrieg und neuerdings auch bei Russlands Krieg gegen die Ukraine. Mit
der Schlammzeit muss man als Militärplaner rechnen, denn dann ist das
Kriegführen schwierig, weil das schwere Gerät nicht manövrierfähig ist. Es
schadet der Bildung also nicht, diesen Begriff zu kennen, und er ist nach
meinem Dafürhalten den Lesern durchaus zumutbar.
“Schuld und Sühne” ist übrigens ein weiteres Beispiel dafür, wie man einen russischen Titel an
deutsche Vorstellungen angeglichen hat, denn eigentlich heißt Dostojewskijs
berühmtester Roman wörtlich “Verbrechen und Strafe”, was in neueren Ausgaben des Werkes auch berücksichtigt wird, aber der
falsche, vom Protestantismus geprägte Titel in der Übersetzung ist
mittlerweile tradiert und es wird eine ganze Weile dauern, bis er sich
wieder abgeschliffen hat. Betrachtet man derartige Details, lässt sich
erahnen, ein wie verschobenes Bild wir wahrscheinlich von Russland haben;
im öffentlichen Diskurs um den russischen Krieg gegen die Ukraine wird es
ja auch immer wieder deutlich, da werden bestimmte Leute nicht müde zu
betonen, dass Russland nicht nur flächenmäßig ein großes Land, sondern auch
geistig groß ist, dazu angeblich von einer unheimlichen, gar bezaubernden
seelischen Tiefe und obendrein auch noch unbesiegbar. Daraus folgern dann einige, dass es seine eigenen berechtigten Interessen
hätte, die auch über seine Grenzen hinausgehen dürften, aber ein
Völkermord, wie ihn Russland in der Ukraine verübt, kann kein “berechtigtes
Interesse” sein, und es gibt nie gute Gründe, um einen Völkermord zu verüben. Es sollte eigentlich unnötig sein, das
festzustellen, das ist es aber leider nicht, weil zu viele Menschen für das
verbrecherische Russland Partei ergreifen.
Der Schriftsteller Wassilij Grossman, der im ukrainischen Berditschew,
einem bis zum Holocaust sehr jüdischen Ort, geboren wurde, der aber im
Herzen der Finsternis (Moskau) starb, durchschaute Russland wie kaum ein
anderer. Er hat einmal diese erhellenden Sätze über das Klischee von der
ach so rätselhaften, ach so tiefen russischen Seele geschrieben, die auf
nichts anderem fußt als auf der Sklaverei:
Zitat: Ist die russische Seele immer noch rätselhaft? Nein, es gibt kein Rätsel. Gab es eins? Was ist rätselhaft am Sklaventum? Ist etwa das russische Entwicklungsgesetz wirklich nur ein russisches? Ist es der russischen Seele und wirklich nur ihr bestimmt, sich nicht mit wachsender Freiheit, sondern mit wachsendem Sklaventum zu entwickeln? Zeigt sich wirklich hierin das Fatum der russischen Seele? ... Es wird Zeit, dass die Enträtsler Russlands begreifen – nur das tausendjährige Sklaventum hat die Mystik der russischen Seele geschaffen.
Schluss also mit der Mystik von der russischen Seele. Sie hat uns bisher
immer nur daran gehindert, die bittere Wahrheit Russlands zu sehen: Es ist
ein blutiges Imperium und wird auch immer eines bleiben, weil das sein
Wesenskern ist. Verschwindet dieser, wird auch Russland verschwinden. Davor
müssen wir keine Angst haben, selbst wenn der Zerfall Russlands eine sehr
unruhige Periode werden sollte: Alles ist besser als das, was gerade ist.
Nie in seiner nahezu durchweg trostlosen Geschichte war Russland
unzuverlässiger und gefährlicher als heute. Das Land ist wie ISIS – nur mit
Interkontinentalraketen und Atomwaffen, aber wir dürfen uns davor nicht
fürchten. Furcht ist die große Macht der Diktatoren. Natürlich wollen wir
alle leben, nur müssen wir uns auch fragen, wie lebenswert eine Welt ist,
in der ein faschistischer Diktator gewinnt und seinen Machtbereich, seine
Todeszone, vergrößert!
Nun aber zurück zu den umbenannten “Berichten aus der Schlammzeit”: Ich
will mich nicht noch viel länger am für die Übersetzung geänderten Titel
des Erzählbandes abarbeiten, muss jedoch noch auf das in ihm unterschlagene
Wort “Berichte” zu sprechen kommen, denn das ist eine ganz wesentliche
Beschreibung der Texte, die laut Aussage des Autoren in einem Interview
irgendwie zwischen Realität und Erfindung tanzen: Sie erzählen auf jeden
Fall das Mögliche, manchmal vielleicht übertrieben und pointiert, und dennoch sind sie “fast wahre Begebenheiten”, und als solche möchte ich sie auch behandeln.
Schönheit und Grauen
Ein weiterer kleiner Bogen ist notwendig, bevor ich endlich, wenn auch nur
kurz, auf den Inhalt von Ikonnikows Erzählband eingehen kann, und es wird
sich bald zeigen, warum ich ihn schlage. Ich weiß, dass ich die Geduld des
Lesers, der diesen Text nur liest, um etwas über das Buch zu erfahren,
gerade leidlich strapaziere, aber nur so umständlich macht die
Beschäftigung damit Sinn, jedenfalls für mich.
Die Sowjets sollen sich nach dem Sieg über Nazi-Deutschland gewundert
haben, wie eine Nation, die Lessing, Goethe, Schiller und Heine
hervorgebracht hat, so tief in die Barbarei sinken konnte, dass es
Vernichtungslager im industriellen Stil betrieb und Vernichtungskriege
gegen andere Länder führte. Oberflächlich ist es eine interessante
Fragestellung, aber die KZ-Betreiber und Kriegsplaner waren nun einmal
nicht Lessing, Goethe, Schiller oder Heine, sondern ganz andere Leute, von
einem ganz anderen Schlag: Kulturloses Volk. Und es gab ja auch zur
Nazi-Zeit geistige Größen deutscher Abstammung, die sich der Menschlichkeit
verschrieben hatten und als Lichter in düsterer Zeit weiter strahlten.
Natürlich ist diese sowjetische auch eine scheinheilige und ablenkende
Frage, da unter dem Kommunismus russischer Provenienz ja ganz ähnliche
Verbrechen verübt worden sind, so grausam, dass selbst die
nationalsozialistische Propaganda sie gern zur Abschreckung benutzte,
nachzulesen unter anderem in dem antisemitischen Machwerk “Die GPU” von Wolfgang Mund, herausgegeben vom “Antikomintern” und 1942 gedruckt bei
Franz Müller in Dresden. Natürlich wird darin vieles übertrieben,
überzeichnet und verzerrt, und dennoch bezieht es sich auf die Realität.
Wenn man unbedingt eine deutsche geistige Größe sucht, welche die späteren
Verbrechen der Nazis irgendwie angekündigt hat, dann wird man noch am
ehesten auf Friedrich Nietzsche stoßen, und man ist ja auch immer wieder auf ihn gestoßen und hat ihn arg
verteufelt. Natürlich hätte Nietzsche die Nazis und das, was seine
Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche posthum aus ihm selbst gemacht hat,
absolut abscheulich gefunden, aber er muss sich doch vorwerfen lassen, dass
er sein Werk, seine Aussagen, seine Ideen nicht genug gegen einen
Missbrauch abgesichert hat: Schon die Vorstellung, dass es einen
Übermenschen bräuchte, der den Menschen überwindet, ist eine gefährliche
Utopie, die geradewegs in den Totalitarismus führt, sie musste nur noch ein
bisschen ausgekleidet werden. Und dann der “Wille zur Macht” (nur ein
Beispiel: ”Das Leben ist nicht Anpassung innerer Bedingungen an äußere, sondern Wille
zur Macht, der von innen her immer mehr «Äußeres» sich unterwirft und
einverleibt.” – das könnte auch Hitler gesagt haben): Was für ein ausgemachter, inhumaner
Unsinn, der das Leben irgendwie als eine Art von Dauerkrieg begreift!
Nietzsche war also, das scheue ich nicht auszusprechen, ein in die Zukunft
geworfener Schatten, der die bevorstehende deutsche Nacht der
Menschlichkeit hat erahnen lassen. Nietzsches Besessenheit, seine
übersteigerte Energie, die sich schriftlich Geltung verschaffte, sein Wahn
– das alles waren sehr ungesunde Zeichen, die sich bei den Nazis mit
einigen Abwandlungen in anderen, physischen Bahnen fortgesetzt haben.
Puschkin und Butscha
Aktualisieren wir aber einmal die oben erwähnte, nicht ganz unpathetische
Frage, indem wir sie auf das heutige Russland beziehen, das Krieg gegen die
Ukraine und Syrien führt, das bedeutende Teile Georgiens besetzt hält, das
auf der ganzen Welt für Unfrieden sorgt – das schlichtweg ein mafiös
geführter Terrorstaat ist, von dem man nur sagen kann, dass die restliche
Menschheit besser dran wäre, wenn es ihn nicht gäbe, wenn es ihn nie
gegeben hätte:
Wie kann eine Nation, welche die russischen Klassiker hervorgebracht hat,
verantwortlich sein für die grausamsten Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, man denke nur an das, was die Russen in Butscha, Nowa Kachowka (die Sprengung des Staudammes) oder Mariupol gemacht haben? Wir müssen rücksichtslos ehrlich sein, wenn wir diese Frage
zu beantworten suchen, denn dann werden wir sehen, dass es nur ein
scheinbarer Widerspruch ist, weil das, was diese häufig sehr leichtfertig
gepriesenen russischen Klassiker geschrieben haben, sehr wohl die russische
Gegenwart erhellen kann und nicht einmal besonders weit von ihr entfernt
ist, denn das russische Imperium ist ein jahrhundertealtes Kontinuum;
während die Nazis nur für kurze Zeit an der Macht waren, und selbst wenn
man die Regentschaft Wilhelm II. zu Hitlers Kanzlerschaft addiert: Gegen
die russischen Dimensionen der ungebändigten Gewalt verblasst das alles –
selbstverständlich ohne dadurch weniger schrecklich zu sein.
Machen wir uns auch noch einmal bewusst, dass der Rückgriff auf die
deutschen Klassiker durch die oben angeführte rhetorische Frage nach dem
Zweiten Weltkrieg auch erzieherische Zwecke gehabt hat, denn es musste ja
irgendwie weitergehen, und damit man weiß, wie es nach einer totalen
nationalen Niederlage weitergehen kann, braucht man häufig eine
Perspektive, und diese Perspektive hat damals unter anderem die
synthetisch-selektiv betrachtete und damit dann bessere Vergangenheit
geboten:
Kopf hoch, liebe Leute, Deutschland kann nicht nur Auschwitz-Birkenau,
Majdanek, Belzec, Sobibor und Treblinka, es kann auch “Nathan der Weise”,
“Faust”, “Die Glocke” und “Die Lore-Ley”. Das ist vollkommen klar, es sind
Fakten, es ist bereits bewiesen. In der Zukunft sollte es im sowjetisch
besetzten Ostdeutschland natürlich in Richtung Sozialismus gehen, eine
kleine nationale, identitätsstiftende Komponente, seine ausgewählten
Klassiker, gestand man der Zone jedoch zu.
Russische Abgründe
Wenn wir die russischen Klassiker lesen, begegnen uns immer auch die
russischen Abgründe, weil sie aus ihnen heraus entstanden sind und diese
zwangsläufig widerspiegeln, und da ist es ganz gleich, ob wir uns mit
Puschkin, Lermontow, Tolstoj oder Dostojewskij befassen. Puschkin hat sein
Poltawa-Gedicht geschrieben, Lermontow wurde in den Kaukasus versetzt, um
diesen als Teil der russischen Armee zu unterwerfen (das hat ihm nicht
gefallen und er verdient dafür Anerkennung), Tolstoj hat als junger Mann
ebenfalls am Kaukasuskrieg teilgenommen, den die Russen von 1817–64 führten
und in dem sie unter anderem einen Völkermord an den Adygen bzw.
Tscherkessen verübten. Dostojewskij hat seine sibirische Gefangenschaft
nicht nur literarisch in die “Aufzeichnungen aus einem toten Haus” transformiert, er hat sich später selbst transformiert und ist ein
großrussischer Imperialist geworden, was in seinem “Tagebuch eines Schriftstellers” am deutlichsten wird. Ich könnte die Reihe der Beispiele endlos fortsetzen,
vielleicht noch Turgenjews grausame Geschichte “Der Hund” erwähnen, um endlich bei Alexander Ikonnikows Erzählband anzukommen, um den
es hier ja eigentlich geht: In den Werken der genannten russischen Autoren
stecken unangenehme, eigentlich unerträgliche Wahrheiten, selbst wenn sie,
was selten genug passiert, als Kritik vorgetragen werden: Die Autoren
wurden maßgeblich vom russischen Imperialismus geprägt und haben diesen
wieder reproduziert. Was ist beispielsweise die ausgereifte Ethik von
Dostojewskij? Dass die Russen die ganze Welt beherrschen sollen! So viel
und so gut er auch geschrieben haben mag, und es ist ja durchaus
anzuerkennen, welche Immersionskraft seine großen Romane besitzen – aber
sie saugen einen vor allem nur auf und lassen die Zeit, die beim Lesen
verstreicht, vergessen, ohne einen zu bilden. Ist es das, was wir von
großer Literatur verlangen? Aber auch echtes Vergnügen wird man an dieser
Literatur nicht finden, man kann sie allenfalls studieren – wie einen
Patienten analysieren.
Wo sind die Russen, die Russland radikal infrage stellen, die mit all
seinem Unglück einmal gründlich aufräumen wollen – welche die Hand direkt
an die Wurzel legen, welche den Fluch seiner unheilvollen Existenz brechen?
Sie sind nicht besonders zahlreich, einer der ersten war Wladimir Sergejewitsch Petscherin (1807–85). Oft ist es, und das werden wir auch gleich bei Ikonnikow sehen,
ein laues Resignieren, in das die Knospen früherer Empörung umschlagen:
Alles ist, wie es ist, und es wird auch immer so bleiben. Am besten fährt
die abgestumpfte Seele dann, wenn sie sich selbst betrügt und annimmt, dass
es außerdem auch noch gut sei, wie es ist. In dem Sinne sind viele Russen
Hegelianer, die gern das Zitat “Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist
vernünftig” sinngemäß unterschreiben würden – nur um ihre Ruhe zu haben, denn wenn man
die Wahrheit zuließe, dass die Wirklichkeit ziemlich unvernünftig ist – in
Ikonnikows Worten kann sie in Russland sogar mit dem Wahnsinn verwechselt
werden –, dürfte man nicht untätig bleiben, dann griffe ein moralischer
Imperativ, die Verhältnisse zum Besseren zu ändern. Aber wie soll das
gehen? Kommt man überhaupt irgendwie gegen die historisch aufgetürmten
Lasten Russlands an, gegen all das nie eingestandene, nie bewältigte, nie
verarbeitete Leid und Elend, das immer weiter fortgesetzt wird, von
Generation zu Generation?
Wenn es einfach wäre, hätte man sicherlich schon längst eine Lösung
gefunden und implementiert, aber hier gibt es keine einfachen Lösungen,
allerdings habe ich einen Vorschlag: Wenn die Russen lernen, sich für ihre
moralischen Verfehlungen, für ihre zahllosen Verbrechen aufrichtig zu
schämen und auf der anderen Seite ihren maßlosen und ziemlich hohlen Stolz
zurückfahren, dann ist bereits ein guter Anfang gemacht. Ein weiterer,
bescheidener Vorschlag meinerseits ist: Die Russen müssen auch endlich
lernen, loszulassen, sie müssen das Festhalten an dem, was ihnen nicht
gehört, beenden, sie müssen aufhören, danach gewaltsam zu grapschen. Sie
müssen lernen, den Anderen, das Eigentum, und vor allem das Leben der
Anderen zu respektieren, sie müssen lernen, sich selbst zu respektieren,
denn wenn man sich selbst nicht respektiert, ist es ja leider egal, wie man
sich benimmt, aber es ist nicht egal, wo die Interessen Dritter berührt
werden. Die Russen, welche ihrem Land den Charakter geben, müssen sehr viel
lernen, wirklich sehr viel lernen.
Und wieder: Die russische Seele
Über die russische Seele lässt uns Ikonnikow in dem Erzählband durch die
Rede einer seiner Figuren übrigens auch etwas wissen, und es ist nicht
besonders schmeichelhaft, wenn hier ihre Zusammensetzung erklärt wird:
Zitat: “Und? Haben sie das Rätsel der russischen Seele gelöst?"
“Unsinn! Sie ist überhaupt nicht rätselhaft!” explodiert Juri Wassiljewitsch, und ich weiß, daß er sich innerlich schon auf seinen Vortrag vorbereitet hat. Will man keinen Streit mit ihm, muß man einfach geduldig sein.
“Die sogenannte russische Seele besteht aus vier Komponenten: dem russischen Kreuz, der russischen Sprache, dem Wodka und dem Glück im Leid.”
Es mag unbarmherzig wirken, aber die russische Literatur ist das Symptom
einer tieferliegenden Krankheit: Der russischen Krankheit, die sich daraus
ergibt, worauf sich die russische Gesellschaft, der russische Staat
gründet. Schauen wir nur einmal auf den Rückdeckel von Alexander Ikonnikows
“Taiga Blues”, auf dem ein Ausschnitt einer exemplarischen Erzählung
abgedruckt ist:
Zitat: Im Suff ist die Melkerin Krotowa ausgerastet und hat ihrem Mann mit der Axt ein Bein abgehackt. Wohin nun damit? Das Krankenhaus erklärt sich für unzuständig, und die Leichenhalle nimmt nur ganze Tote. Bleibt das Verscharren im Wald. Doch dort stößt ein altes Mütterchen beim Holzsammeln auf den grausigen Fund. Panik bricht aus, Moskau schickt Spezialeinheiten... Eine Geschichte wie diese kann nur in Russland spielen, wo Wirklichkeit und Wahnsinn sich zum Verwechseln ähneln.
Das hört sich einigermaßen sensationell und sicherlich auch spannend an,
aber wir müssen daran denken, dass wir es mit einer Art Bericht zu tun
haben, selbst wenn der Autor ein paar Einschränkungen in Bezug auf dessen
Wahrheitsgehalt gemacht hat: Es ist keine reine Fiktion, und von derartigen
Texten wie dem eben zitierten wimmelt das Buch.
Ich wage zu behaupten, dass im “Taiga Blues” bspw. die Auslöschung Mariupols, die Massaker von Butscha oder der Abschuss der MH-17 bereits kokonhaft enthalten sind. Wie das? Den Menschen, die darin
auftauchen, traue ich das alles auf jeden Fall zu, jedes dieser bisher
unbestraften Verbrechen könnte von ihnen verübt worden sein.
Man kann das alles lesen, Erzählung für Erzählung, als würde man eine
Freakshow besuchen, in der sich seltsame Lebewesen seltsam verhalten: Die
Menschen in dem Buch benehmen sich fürchterlich gegeneinander, sie lachen
und weinen aus den falschen, weil unmoralischen Gründen, sie agieren
gewissenlos, üben Gewalt aus, begehen Verbrechen, sie haben keine höheren
Werte und kein Gewissen; es wäre schon schlimm genug, wenn diese sozial
verwahrlosten Menschen unter sich blieben, um sich gegenseitig das Leben
schwer zu machen, aber das können sie ja nicht, das reicht ihnen nicht. Der
Erzählband thematisiert es nicht, deswegen muss ich es hier hinzufügen: Sie
wollen auch anderen, völlig Fremden ihr Elend aufzwingen, weil sie das als
ihre heilige historische Mission begreifen, weil sie es seit Jahrhunderten
so machen und einfach nicht anders können. Der Russe und sein Russland
müssen groß sein; brachiale und breitflächig ausgeübte Gewalt gehört immer
dazu, im Alltag wie in den Kriegen, die es unablässig führt. Hier sehen wir
dann die Naht, die Literatur und Wirklichkeit, die Russland und
Nicht-Russland trennt, sehen, wie sie sich auflöst: Für einen gewöhnlichen
russischen Imperialisten gibt es Gott im Himmel und unten auf der Erde
Russland, nichts anderes als Russland. Der russische Imperialist möchte,
dass sein Russland absolut ist, und doch kann er es nicht lassen, es andauernd mit dem Westen zu
vergleichen. Es kränkt ihn, dass er dessen Niveau nie erreichen wird, weil
er sich selbst dabei im Wege steht, eine besser funktionierende,
menschlichere Gesellschaft aufzubauen. Da hat der russische Imperialismus
all diese Ländereien über Jahrhunderte zusammengerafft, Volk um Volk in
allen Himmelsrichtungen unterworfen, ausgerottet oder assimiliert, und es
hat die Russen doch nicht glücklich gemacht. Erst, wenn der russische
Imperialist die ganze Welt besitzt, wie es sich auch Dostojewskij
erträumte, wird er aufhören, sich nach weiterer Expansion zu sehnen, aber
selbst dann wäre er kein glücklicher Mensch, ganz abgesehen davon, dass es
dazu niemals kommen wird: Am Ende sitzt der russische Imperialist immer wie
des Fischers Frau wieder in seinem Pisspott.
Der Überbringer der Botschaft
Muss man den Chronisten des täglichen Gangs verurteilen, der uns
Eigenheiten des ländlichen russischen Lebens nach einer der besten
geopolitischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, dem Zusammenbruch des
menschenfeindlichen Sowjetsystems, mitteilt? Sicherlich nicht, aber das,
was er uns mitteilt, ist eben keine gute, ist keine unschuldige
Unterhaltung, auch wenn es so manchen kitzelnden Schauder bereithält, den
man als lesender Voyeur in weiter und damit sicherer Ferne verspüren kann
oder könnte. Dieses Buch, das Alexander Ikonnikow vor etwa einem
Vierteljahrhundert geschrieben hat, ist ein todernstes Buch, weil es die
menschlichen Abgründe brutal offenlegt, die in Russland, was der Krieg
gegen die Ukraine nur erneut beweist, die Norm sind, vielleicht in den
wenigen Metropolen nicht so krass wie auf dem Lande, aber auf dem Lande
sicherlich. Ikonnikows Erzählungen sind eine Illustration des hässlichen
Russlands, wie es heute wieder über seine sowieso schon maßlos überdehnten
Grenzen hinausdrängt. Aber ich kann diesen gar nicht so bekannten
russischen Autoren Ikonnikow, der nur eine deutsche und französische
Wikipedia-Seite hat, auch ein wenig loben, denn immerhin erkennt er, bzw.
eine seiner Figuren, den Imperialismus an, auf dem sein Land gegründet ist
– hier ein Zitat aus dem Text “Tag der Unabhängigkeit”:
Zitat: Als ein weiterer Feiertag eingeführt wurde, freuten sich alle natürlich. Wir haben schon den Tag des Autofahrers, den Tag der Miliz, den Tag der medizinischen Fachkraft, kurzum, für jeden Beruf einen Tag. Dann haben wir noch den Internationalen Frauentag, den Tag des Vaterlandsverteidigers, den Kinderschutztag, den Tag der Verfassung und so weiter. Warum sollte es nicht auch einen Tag der Unabhängigkeit geben? Manche fragten sich freilich:
„Russland, ein Imperium, das Hunderte von Völkern unterworfen hat, feiert die Unabhängigkeit? Unabhängigkeit von wem? Oder wovon?”
Aber noch bevor die Antwort kam, hatten sie begriffen: Unabhängigkeit von uns selbst, das heißt, du bist dem Staat schnuppe, und der Staat ist dir schnuppe. Da fiel allen sogleich ein Stein vom Herzen, und sie freuten sich doppelt.
Wie gesagt: Wenn es nicht traurige Implikationen für unsere gemeinsame
Realität hätte, könnte man über eine solche Erzählung schmunzeln, aber ich
kann darüber schon lange nicht mehr schmunzeln. Ich mag heutzutage nicht
einmal mehr die Erzählungen von Daniil Charms lesen, dem kreativen Genie,
das in den gnadenlosen Mühlen des Stalinismus, der auch im Westen lange
Zeit viele Freunde hatte, zugrunde ging, denn das Grauen scheint die
Schönheit und den Witz, die in seinen Werken zu finden sind, zu bedingen,
und wenn ich die Schönheit und den Witz gutheiße, nehme ich zwangsläufig
das Grauen in Kauf, denn ich bekomme die Pflanze nicht ohne den Boden, auf
dem sie wächst. Also verzichte ich auf beides. Das alles muss endlich
aufhören.
Kämpfen oder fliehen?
Als jemand, der selbst in einer Diktatur aufgewachsen ist, meine ich genau
zu verstehen, welche Optionen man dort hat, ein anständiger Mensch zu
bleiben: Die offensichtlichste ist, das diktatorisch regierte Land
möglichst bald zu verlassen und irgendwo anders ein besseres Leben
aufzubauen. Wenn jedoch, mag man einwenden, alle guten Leute ein Land
verlassen, dann bleiben dort nur die schlechten übrig und das Land wird in
der Summe noch schlechter, aber hoffentlich hat der Abfluss der besseren
Menschen auch einen negativen Einfluss auf das Land und vermindert seine
Möglichkeiten, seine Vitalität, seine Kraft zum Bösen, seine
Überlebenschancen. Die andere Option ist, zu bleiben und möglichst viel
Gutes zu tun, das heißt, möglichst viel Schaden im Land anzurichten. Das
ist der schwierigere Weg, für den man sehr wahrscheinlich einen hohen Preis
bezahlen muss. Wenn ihn nur genug Menschen mitgehen, kann er zu großen
Erfolgen führen, aber dafür bräuchte es Solidarität. Solidarität in
Russland? In Polen, in der Ukraine – ja, selbst in Belarus gibt es
Solidarität, aber in Russland scheint sich jeder selbst der Nächste zu
sein.
“Weglaufen – oder nicht weglaufen” hieß die Überschrift eines Artikels aus dem Jahr 2009, der sich mit
Alexander Ikonnikow befasste. Damals war er ein in Russland nicht
gedruckter Autor, aber bereits in sieben europäische Sprachen übersetzt;
ich kann nicht einmal sagen, ob sich das mittlerweile geändert hat. Es ist
jedenfalls nachzuvollziehbar, warum sich in Russland seinerzeit niemand für
ihn interessiert hat – wer guckt gern in einen Spiegel, um darin die
Scheiße zu sehen, die einen umgibt, und – Pardon – zu der man womöglich
selbst gehört? Ikonnikow, der 1974 in der russischen Provinzstadt Urshun
bei Kirow (Wjatka) geboren wurde und Germanistik studierte, hat sich für
das Bleiben entschieden. Seine Erklärung, die er in dem Interview von 2009
gegeben hat, trieft vor Sarkasmus – und doch hält er zu Russland. Was er
heute wohl sagen würde? Ich habe nichts aktuelleres als diesen Artikel aus
einem russischen Magazin, aus dem ich gleich zitiere, zu seiner Person
recherchieren können – aber in einem hat Ikonnikow Recht: Russland hat
sich in den letzten 100 Jahren nicht geändert, und es wird auch nicht
besser werden, womit ich mich irgendwie wiederhole, denn das habe ich oben
ja bereits mit anderen Worten beschrieben.
Hören wir, was Ikonnikow im Jahr 2009 zu sagen hatte:
Zitat: Heute gibt es in Russland einen Hauch von sozialistischer Zusammengehörigkeit, die uns eint. Sie haben uns die sowjetische Hymne zurückgegeben, und jetzt sehen wir wieder wie die Sowjetunion aus. Was auch immer Putin sagt, alle stimmen sofort zu, und niemand tut etwas. Eine Art Zurück zur UdSSR: Gewehre und Raketen, altmodische Methoden der Konsolidierung mit der Obrigkeit durch die Schaffung von äußeren und inneren Feinden.... Lustig und amüsant!
Aber ich will nicht in Deutschland leben: Ich langweile mich dort. Ich interessiere mich für Emotionen, und im brodelnden Russland fühle ich mich, wie Majakowski, “wohl!”. Man hat dem Volk ein Stück Brot gegeben, und es ist ruhig. Sie glauben an den Zaren und den Beamten: Der Zar wird kommen und die Kacke aus dem Eingang fegen. Ich lese noch einmal Saltykow-Schchedrin und fasse mir an den Kopf: Mehr als hundert Jahre sind vergangen, und nichts hat sich geändert. Und wird es besser werden? Ich glaube es nicht!
Kann ich dem Leser dieser “Rezension” empfehlen, den “Taiga Blues” zu
lesen? Natürlich nicht, es sei denn, er trägt sich mit dem Gedanken, mehr
über unseren Feind im Osten zu erfahren, und das muss man ja, wenn man sich
mit ihm in einer tödlichen Auseinandersetzung befindet. Also doch:
Lesen Sie den “Taiga Blues”, lesen Sie die Berichte aus der Schlammzeit, das Buch wird Ihre Augen, was das Wesen Russlands betrifft, zumindest ein
wenig öffnen, wenn sie nicht schon geöffnet sind. Handwerklich sind die
vielen kleinen Texte gut gemacht, sie haben fast immer eine überzeugende
Punchline, das alles liest sich rasch runter, rein menschlich enttäuscht es
ohne Zweifel, es entsetzt.
Kaum eine Hochkultur
Mit dem eben gegebenen Rat könnte ich die vorliegende etwas ungewöhnliche
Rezension beenden, ich will aber noch einen Ukrainer zu Wort kommen lassen,
denn wir hören immer noch zu wenig den Ukrainern zu, obwohl sie uns so viel
Wichtiges zu sagen haben, obwohl sie wie kaum andere verstehen, womit wir
es zu tun haben, die wissen, was Russland für ein Land ist, was es
antreibt, welche Katastrophen es zu produzieren fähig ist. Hören wir also
den Archäologen Maksym Lewada, wie er in seiner Sammlung von
Tagebucheinträgen über die Kultur des russischen Volkes, die letztlich eine
fehlende Kultur ist, schreibt. Diese Sammlung ist in der deutschen
Übersetzung unter dem Titel “Als der Krieg begann” (2022, kostenlos als PDF verfügbar bei der Bundeszentrale für politische Bildung – der aktuelle Krieg Russlands gegen die Ukraine begann allerdings schon im
Jahr 2014) erschienen:
Zitat: Die Kultur des russischen Volkes, die seine Nachbarn beeinflusst hat, ist “ruski mat”, eine Reihe von Flüchen, schmutzig, vulgär. In diesem Volk ist der Mensch nicht nach bestimmten Grundsätzen geformt, sondern durch Lebensumstände und Instinkte: Schweig! Stehle! Nimm weg! Verprügle! Vergewaltige! Töte! Fürchte Dich vor dem Stärkeren, misshandle den Schwachen! Das kann man wohl kaum Hochkultur nennen. Es ist die Kultur der Masse, die vom Staat geformt wurde oder die ihn geformt hat, unabhängig vom Ursprünglichen.
Nur die Kultur, zu der auch immer die Moral als Teilgebiet gehört, bewahrt
uns vor der Barbarei! Und so möchte ich die negativen Imperative, die
Maksym Lewada als kennzeichnend für die Russen ausgemacht hat, und die sich
genauso in Ikonnikows Erzählband wiederfinden, abschließend in das Positive
umkehren.
Das sind meine Ratschläge für jeden Menschen, insbesondere die Russen, die
zu häufig gegen viele dieser Punkte verstoßen:
Schweige nicht! Sprich die Wahrheit!
Respektiere das Eigentum der Anderen! Nimm es ihnen nicht weg!
Nimm Abstand von Gewalt.
Nimm besonders Abstand von sexueller Gewalt!
Führe keine Kriege gegen deine Nachbar-
noch gegen weiter entfernt liegende Länder!
Schütze das Leben, im Kleinen wie im Großen!
Fürchte Dich nicht vor dem Stärkeren,
fürchte nur das Recht und dulde das Unrecht nicht.
Sei ein Verteidiger der Schwachen gegen die Starken.
Sei kulturvoll. Sei einfach ein guter Mensch.