Vor gut einem Jahr reagierte die grüne Politikerin und
Bundestagsabgeordnete Katrin Göring-Eckardt auf eine Studie zur
Repräsentation von Ostdeutschen in Führungspositionen, die feststellte,
dass nur 26% der Führungspositionen in den fünf jüngsten Bundesländern mit
Ostdeutschen besetzt sind. Bei einer Podiumsdiskussion mit dem Publizisten
Dirk Oschmann und der Philosophin Dr. Margret Franz am 26. Juni 2023 in
Jena erläuterte Göring-Eckardt, die wie ich selbst in der DDR geboren
worden ist, dann unter anderem, dass sie die Unterrepräsentation der
Ostdeutschen auch als strukturelles Problem bei Nachbesetzungen von
Führungspositionen wahrnehme, die bereits von Westdeutschen in
Ostdeutschland gehalten werden: Die westdeutschen Führungskräfte würden
Leute aus ihrem Umfeld, die ebenfalls wieder Westdeutsche sind, bei
relevanten Stellenausschreibungen bevorzugen. Das mag vorkommen, in der
Tendenz vielleicht sogar stimmen, aber es ist dann nicht nur ein Problem
zwischen Ost- und Westdeutschen, sondern ein allgemeineres, menschliches:
Wenn man jemandem eine Führung anvertraut, muss man dieser Person vertrauen können. Das fällt einem einfacher, je besser man die Person versteht, je
besser man sich mit ihr versteht. Dieses Verstehen stellt sich also
zuverlässiger ein, wenn man die gleichen Werte teilt, eine ähnliche Art der
Kommunikation pflegt, zu der auch der Humor gehört, der so vieles im
Zwischenmenschlichen angenehmer machen kann, und es kein großes Gefälle im
Bildungsniveau, in der Kultiviertheit gibt – Basis all dessen kann eine
gemeinsame regionale und soziale Herkunft sein. Natürlich gibt es auch
geographische Barrieren auf der gesamtdeutschen Bühne, welche die Realität
in den Führungsetagen beeinflussen, aber ein Hamburger Unternehmen, in dem
viele Bayern in Führungspositionen beschäftigt sind, scheint mir genauso
unwahrscheinlich wie der umgekehrte Fall eines Münchner Unternehmens, das
auffällig viele Norddeutsche in diesen Positionen angestellt hat. Sollte es
doch solche Fälle geben, bitte ich darum, mir diese mitzuteilen.
Die Bevorzugung von Menschen, denen man vertrauen kann, da man sie
einzuschätzen weiß und von vornherein gut mit ihnen klar kommt, weil man
sich ganz unkompliziert auf einer gemeinsamen Ebene wiederfindet, und es
daher zu weniger Missverständnissen und grundlegenden Konflikten führt,
scheint also, ohne es hier irgendwie wertend einstufen zu wollen,
vordergründig etwas sehr Natürliches, Naheliegendes zu sein – selbst in
Unternehmen, die sich sonst gern öffentlich und punktuell für ihre
Diversität feiern. Sich seiner natürlichen Voreingenommenheit immerhin
bewusst zu sein, ist dann schon ein großer Schritt.
Zweifelhafte Führung
Katrin Göring-Eckardt sieht Führung als etwas positives, erstrebenswertes
und hat sich dazu vor einem Jahr auf Social Media (Twitter, Linkedin) wie
folgt erklärt:
Zitat: Repräsentation führt zu Akzeptanz, fördert Gerechtigkeit und stärkt unser Miteinander. Hier sind Politik, Wirtschaft, Medien, Justiz und Wissenschaft in Ostdeutschland gleichermaßen gefordert.
Auch wenn eine Führungsposition mit einer gewissen Macht über einen
bestimmten Bereich einhergeht, dem andere Menschen zugehören, würde ich es
falsch finden, sie an sich durchweg positiv zu bewerten. Eine gute Führung,
die sowohl die Organisation, in der sie stattfindet, als auch die in ihr
Beteiligten zufriedenstellt, ist äußerst selten, und jeder Mensch mit einer
gewissen Lebenserfahrung wird sicherlich ohne viel nachzudenken einige
Dutzend Beispiele schlechter oder gar sehr schlechter Führung nennen können
– bis hinauf zu unseren letzten Bundeskanzlern. Dass es
überdurchschnittlich viele Psycho- oder Soziopathen in das höchste
Management schaffen, ist in der Bevölkerung mittlerweile auch eine
Binsenweisheit, die man regelmäßig bestätigt findet. Führung, selbst wenn
sie nicht selbst in der Politik stattfindet, hat generell immer auch die
hässliche Seite der Politik an sich, obwohl sie natürlich unterschiedlich
ausgelebt wird, je nach Persönlichkeit und Umständen: Die Kämpfe mit
anderen Führern, die Intrigen, die Halbwahrheiten, das Durchsetzen von
Umstrukturierungen oder ähnlichen unangenehmen Anordnungen von weiter oben,
beispielsweise von ideologischen Vorgaben, die man selbst nicht teilt, das
Vortäuschen von Sachkenntnis, das Dummhalten, Totreden und Vertrösten von
Untergebenen, das Ausweichen und Lügen, die ständige Sorge um den
Machterhalt.
Die Menschen, die wirklich etwas Gutes tun und ihre Integrität bewahren,
findet man nur sehr selten in den vorderen Reihen der Macht, dort dafür
aber um so mehr Hyänen, die vor allem geschickt reden und agieren können.
Auch wenn Göring-Eckardt im obigen Zitat große Worte wie Akzeptanz,
Gerechtigkeit und ein gestärktes Miteinander angeführt hat: Führung ist
keine absolut erstrebenswerte Rolle – eben weil sie neben den bereits
genannten Gründen Menschen in Hierarchien voneinander trennt, anstatt sie
zu vereinen. Eine gesunde, effiziente und erfolgreiche Gesellschaft oder
eine andere, mit den gleichen Attributen versehene, von Menschen gebildete
Formation von nicht trivialem Umfang ohne Führung wird immer eine Utopie
bleiben, da es bei Führung in erster Linie um verbindliche
Verantwortlichkeiten, das Erreichen von Zielen und die Organisation all
dessen, was man dazu braucht, geht, allerdings halte ich es für
wünschenswert, sie auf das nötigste zu begrenzen, weil die Erhebung des
einen immer auch die Erniedrigung von vielen bedeutet. Wohlgemerkt, ich
denke hierbei an institutionell verankerte, nicht jedoch an natürliche
Führung, die aus sich selbst heraus stark ist und die zusätzlich von der
Akzeptanz der Geführten gestützt wird.
Sorgen im Osten
Die Wende in Ostdeutschland ist vielleicht vergleichbar mit dem Öffnen
aller Fenster in einem Gefängnisgebäude, in dessen Räumen sich der
gammelige Muff erst der braunen und dann der roten Diktatur über Jahrzehnte
festgesetzt hat: Die frische einströmende Luft allein macht nicht alles
neu, das Gebäude ist immer noch als Gefängnis erkennbar, die meisten Wärter
und anderen früheren Systemträger sind erst einmal weiterhin anwesend,
selbst wenn sie jetzt keine Wärter und Systemträger mehr sind – vergessen
wir auch nicht die vielen geschädigten Opfer, die ihre Geschichte, ihr
Leid, ihre Wunden mit sich herumtragen! Das Gebäude muss also gründlich
umgestaltet, mit neuem Leben erfüllt und die Menschen auch andere werden;
aber die frische Luft kann immerhin dabei helfen, Kraft für die anstehenden
Herausforderungen zu schöpfen. Weniger bildlich gesprochen und an einem
einzigen konkreteren Beispiel gezeigt: Es hat nicht genügt, aus der
Lehrerschaft die rotesten Socken, vielleicht auch mit Stasi-Verbindungen,
auszusortieren und die Lehrpläne zu ersetzen. Klar, in Mathematik hat man
nach dem Mauerfall nicht mehr Sachaufgaben aus der Welt des
Fünfjahresplanes lösen müssen, und man hat auch von seinen Lehrern nicht
mehr gehört, dass die ganze menschliche Geschichte vor dem großen Sieg des
russisch geprägten Kommunismus die Geschichte von Klassenkämpfen gewesen
sei usw. usf. – aber das Personal, das natürlich immer wieder ein paar
Schulungen nach der Wende besucht hat, ist ja trotzdem geblieben, und es
wurde in der DDR sorgfältig ausgewählt und darauf getrimmt, aus den
Schülern sogenannte “sozialistische Persönlichkeiten” im Sinne des Regimes
zu entwickeln – auf ein erfülltes Leben in der bundesdeutschen Demokratie
konnten und wollten sie einen vielleicht auch gar nicht vorbereiten, weil
sie es selbst noch gar nicht aus eigener Lebenserfahrung kannten und
manchmal sogar ablehnten. Wie positiv überrascht war ich Mitte der 1990er,
als ich als Schüler einmal einen Tag Einblick in den Unterricht einer
Schule in Nordrhein-Westfalen erhalten habe! Das war eine andere Welt,
schon von der Atmosphäre her.
Man hat nach dem Zusammenbruch der DDR auf größere, vielleicht auch schwer
umsetzbare Maßnahmen in der Besetzung des Bildungspersonals verzichtet, und
muss nun damit leben, dass das, was in Jahrzehnten zerstört wurde, auch
wieder Jahrzehnte braucht, um aufgebaut zu werden, und dass es, was wir
gerade erleben, harte Rückschläge und vielleicht sogar ein vollständiges
Scheitern der Normalisierung Ostdeutschlands geben kann, einem Teil unserer
Republik, in dem momentan bereits die Hälfte der Bevölkerung für die
Demokratie verloren scheint. Verzweifeln sollten wir nicht, da es in den
letzten Jahren trotz allem sehr erfreuliche Entwicklungen gegeben hat, aber
wir müssen auch dafür kämpfen, dass unser Land nicht durch die radikalen,
sich auf Moskau stützenden und von Moskau gestützten Populisten der AfD und
des nach dem Führerprinzip organisierten BSW (die Linke ist mittlerweile
und glücklicherweise marginalisiert), aber auch nicht durch die
demokratischen Parteien, die sich oft noch weigern, brennende
gesellschaftliche Missstände anzuerkennen und zu beheben, in den Abgrund
gerissen wird.
Bananen und Volkswägen
Die Ostdeutschen – und ich bin mir sehr bewusst, dass ich hier grob
verallgemeinere – haben im Besitz ihrer materialistischen Weltanschauung, die möglicherweise vor allem eine materielle Wertanschauung ist, vielleicht unterschätzt, dass zum Westdeutschsein mehr gehört als nur
die Möglichkeit, sich jederzeit Bananen, einmal einen anständigen
Volkswagen und immer wieder Urlaube in schönen Ländern kaufen zu können.
Jahrzehnte haben sie neidvoll über Mauer und Stacheldraht und in den
Fernseher, in dem westdeutsche Sender liefen, geschaut, weil sie das
unglücklichere Los der Moskauer Besatzung und Diktatur getroffen hat, um am
Ende festzustellen, dass sie immer noch die Ostdeutschen (und obendrein auf den Westen neidische Ostdeutsche) sind, obwohl sich ihre
materielle Lage nach dem Fall der Mauer sehr schnell dramatisch verbessert
hat, aber das ist eben nur die oberste, die oberflächlichste, nach außen
sichtbare Schicht. Auf den inneren Kern, die Seele, jedoch kommt es beim
Menschen letztlich an.
Natürlich genießen die von der Diktatur befreiten Ostdeutschen ihre
Meinungsfreiheit, genießen sie, endlich das sagen zu können, was sie
denken, aber diese Freiheit geht auch mit einer fortwährenden Enttäuschung
einher: Du kannst jetzt sagen, was du denkst, allerdings gibt es, sofern
alles im Rahmen unserer Gesetze bleibt, erst einmal niemanden mehr, der
sich per se dafür interessiert, weil der Staat nicht mehr der argwöhnische
und brutale Vater ist, der alles kontrollieren will und jegliche Abweichung
drakonisch bestraft. Damit eine Meinung gehört und vielleicht sogar wirksam
wird, muss man sie gesellschaftlich organisieren, muss man sich mit anderen
Menschen verbinden. Es scheint zurzeit, als würden sich viele Ostdeutsche
einen strengen Vater zurückwünschen, der zumindest für geordnete
Verhältnisse durch enge Reglementierungen sorgt – selbst wenn er am Ende
eine Mutter wäre und Alice oder Sahra hieße.
Mehr Fragen wagen
Mich ärgert es, wenn immer etwas pauschal über den Zahlenfakt “wenige
Ostdeutsche in ostdeutschen Führungspositionen” geklagt – und dann noch mit
dem Wörtchen “zu” vor “wenige” eine Wertung daraus gemacht wird. Zu einer
offenen, ehrlichen Debatte über das Thema gehört für mich auch, zumindest
einmal zu fragen, ob wir es nicht nur mit einer strukturellen
Benachteiligung durch eigensinnige oder gar ein wenig korrupte Westdeutsche
zu tun haben, sondern ob auch andere Gründe vorliegen und identifizierbar
sind:
Streben überhaupt vergleichbar viele Ostdeutsche in Führungspositionen,
oder scheuen sie es eher, sich in so einer Rolle zu exponieren, trauen sie
es sich nicht zu, die Aufgaben, die damit einhergehen, zu lösen, lehnen sie
es sogar ab, sich funktional über andere Menschen zu erheben, und besitzen
sie neben der fachlichen auch die erforderliche menschliche, kulturelle
Bildung? Was ich sagen und anregen will: Wir müssen genauer hinschauen, was
die Ursachen für die geringere Repräsentation von Ostdeutschen in
ostdeutschen Führungspositionen sind, um diese, wenn wir es tatsächlich für
wünschenswert halten sollten, durch wirksame Maßnahmen zu beseitigen. Das
dümmste jedoch, was wir tun könnten, und was ja leider immer wieder getan
wird, wäre, den zählbaren Fakt durch eine Quotierung rein quantitativ zu
manipulieren, weil es dann zu einer positiven Diskriminierung der
Unterzähligen und damit zu einer ganz klaren Ungerechtigkeit im
Bezugssystem führen würde.