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Sind zu wenige Ostdeutsche in Führungspositionen?

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Abriß des aus DDR-Zeiten stammenden Palastes der Republik in Berlin Mitte (Collage, März 2006)

Gelegentlich wird insinuiert, dass die Unterrepräsentation von Ostdeutschen in ostdeutschen Führungspositionen ein von Westdeutschen gemachtes Problem sei – aber stimmt das auch, ist es die ganze Wahrheit? Und wie erstrebenswert sind diese Führungspositionen überhaupt?

Vor gut einem Jahr reagierte die grüne Politikerin und Bundestagsabgeordnete Katrin Göring-Eckardt auf eine Studie zur Repräsentation von Ostdeutschen in Führungspositionen, die feststellte, dass nur 26% der Führungspositionen in den fünf jüngsten Bundesländern mit Ostdeutschen besetzt sind. Bei einer Podiumsdiskussion mit dem Publizisten Dirk Oschmann und der Philosophin Dr. Margret Franz am 26. Juni 2023 in Jena erläuterte Göring-Eckardt, die wie ich selbst in der DDR geboren worden ist, dann unter anderem, dass sie die Unterrepräsentation der Ostdeutschen auch als strukturelles Problem bei Nachbesetzungen von Führungspositionen wahrnehme, die bereits von Westdeutschen in Ostdeutschland gehalten werden: Die westdeutschen Führungskräfte würden Leute aus ihrem Umfeld, die ebenfalls wieder Westdeutsche sind, bei relevanten Stellenausschreibungen bevorzugen. Das mag vorkommen, in der Tendenz vielleicht sogar stimmen, aber es ist dann nicht nur ein Problem zwischen Ost- und Westdeutschen, sondern ein allgemeineres, menschliches:
Wenn man jemandem eine Führung anvertraut, muss man dieser Person vertrauen können. Das fällt einem einfacher, je besser man die Person versteht, je besser man sich mit ihr versteht. Dieses Verstehen stellt sich also zuverlässiger ein, wenn man die gleichen Werte teilt, eine ähnliche Art der Kommunikation pflegt, zu der auch der Humor gehört, der so vieles im Zwischenmenschlichen angenehmer machen kann, und es kein großes Gefälle im Bildungsniveau, in der Kultiviertheit gibt – Basis all dessen kann eine gemeinsame regionale und soziale Herkunft sein. Natürlich gibt es auch geographische Barrieren auf der gesamtdeutschen Bühne, welche die Realität in den Führungsetagen beeinflussen, aber ein Hamburger Unternehmen, in dem viele Bayern in Führungspositionen beschäftigt sind, scheint mir genauso unwahrscheinlich wie der umgekehrte Fall eines Münchner Unternehmens, das auffällig viele Norddeutsche in diesen Positionen angestellt hat. Sollte es doch solche Fälle geben, bitte ich darum, mir diese mitzuteilen.
Die Bevorzugung von Menschen, denen man vertrauen kann, da man sie einzuschätzen weiß und von vornherein gut mit ihnen klar kommt, weil man sich ganz unkompliziert auf einer gemeinsamen Ebene wiederfindet, und es daher zu weniger Missverständnissen und grundlegenden Konflikten führt, scheint also, ohne es hier irgendwie wertend einstufen zu wollen, vordergründig etwas sehr Natürliches, Naheliegendes zu sein – selbst in Unternehmen, die sich sonst gern öffentlich und punktuell für ihre Diversität feiern. Sich seiner natürlichen Voreingenommenheit immerhin bewusst zu sein, ist dann schon ein großer Schritt.

Zweifelhafte Führung
Katrin Göring-Eckardt sieht Führung als etwas positives, erstrebenswertes und hat sich dazu vor einem Jahr auf Social Media (Twitter, Linkedin) wie folgt erklärt:

Zitat:

Repräsentation führt zu Akzeptanz, fördert Gerechtigkeit und stärkt unser Miteinander. Hier sind Politik, Wirtschaft, Medien, Justiz und Wissenschaft in Ostdeutschland gleichermaßen gefordert.


Auch wenn eine Führungsposition mit einer gewissen Macht über einen bestimmten Bereich einhergeht, dem andere Menschen zugehören, würde ich es falsch finden, sie an sich durchweg positiv zu bewerten. Eine gute Führung, die sowohl die Organisation, in der sie stattfindet, als auch die in ihr Beteiligten zufriedenstellt, ist äußerst selten, und jeder Mensch mit einer gewissen Lebenserfahrung wird sicherlich ohne viel nachzudenken einige Dutzend Beispiele schlechter oder gar sehr schlechter Führung nennen können – bis hinauf zu unseren letzten Bundeskanzlern. Dass es überdurchschnittlich viele Psycho- oder Soziopathen in das höchste Management schaffen, ist in der Bevölkerung mittlerweile auch eine Binsenweisheit, die man regelmäßig bestätigt findet. Führung, selbst wenn sie nicht selbst in der Politik stattfindet, hat generell immer auch die hässliche Seite der Politik an sich, obwohl sie natürlich unterschiedlich ausgelebt wird, je nach Persönlichkeit und Umständen: Die Kämpfe mit anderen Führern, die Intrigen, die Halbwahrheiten, das Durchsetzen von Umstrukturierungen oder ähnlichen unangenehmen Anordnungen von weiter oben, beispielsweise von ideologischen Vorgaben, die man selbst nicht teilt, das Vortäuschen von Sachkenntnis, das Dummhalten, Totreden und Vertrösten von Untergebenen, das Ausweichen und Lügen, die ständige Sorge um den Machterhalt.
Die Menschen, die wirklich etwas Gutes tun und ihre Integrität bewahren, findet man nur sehr selten in den vorderen Reihen der Macht, dort dafür aber um so mehr Hyänen, die vor allem geschickt reden und agieren können.

Auch wenn Göring-Eckardt im obigen Zitat große Worte wie Akzeptanz, Gerechtigkeit und ein gestärktes Miteinander angeführt hat: Führung ist keine absolut erstrebenswerte Rolle – eben weil sie neben den bereits genannten Gründen Menschen in Hierarchien voneinander trennt, anstatt sie zu vereinen. Eine gesunde, effiziente und erfolgreiche Gesellschaft oder eine andere, mit den gleichen Attributen versehene, von Menschen gebildete Formation von nicht trivialem Umfang ohne Führung wird immer eine Utopie bleiben, da es bei Führung in erster Linie um verbindliche Verantwortlichkeiten, das Erreichen von Zielen und die Organisation all dessen, was man dazu braucht, geht, allerdings halte ich es für wünschenswert, sie auf das nötigste zu begrenzen, weil die Erhebung des einen immer auch die Erniedrigung von vielen bedeutet. Wohlgemerkt, ich denke hierbei an institutionell verankerte, nicht jedoch an natürliche Führung, die aus sich selbst heraus stark ist und die zusätzlich von der Akzeptanz der Geführten gestützt wird.

Sorgen im Osten
Die Wende in Ostdeutschland ist vielleicht vergleichbar mit dem Öffnen aller Fenster in einem Gefängnisgebäude, in dessen Räumen sich der gammelige Muff erst der braunen und dann der roten Diktatur über Jahrzehnte festgesetzt hat: Die frische einströmende Luft allein macht nicht alles neu, das Gebäude ist immer noch als Gefängnis erkennbar, die meisten Wärter und anderen früheren Systemträger sind erst einmal weiterhin anwesend, selbst wenn sie jetzt keine Wärter und Systemträger mehr sind – vergessen wir auch nicht die vielen geschädigten Opfer, die ihre Geschichte, ihr Leid, ihre Wunden mit sich herumtragen! Das Gebäude muss also gründlich umgestaltet, mit neuem Leben erfüllt und die Menschen auch andere werden; aber die frische Luft kann immerhin dabei helfen, Kraft für die anstehenden Herausforderungen zu schöpfen. Weniger bildlich gesprochen und an einem einzigen konkreteren Beispiel gezeigt: Es hat nicht genügt, aus der Lehrerschaft die rotesten Socken, vielleicht auch mit Stasi-Verbindungen, auszusortieren und die Lehrpläne zu ersetzen. Klar, in Mathematik hat man nach dem Mauerfall nicht mehr Sachaufgaben aus der Welt des Fünfjahresplanes lösen müssen, und man hat auch von seinen Lehrern nicht mehr gehört, dass die ganze menschliche Geschichte vor dem großen Sieg des russisch geprägten Kommunismus die Geschichte von Klassenkämpfen gewesen sei usw. usf. – aber das Personal, das natürlich immer wieder ein paar Schulungen nach der Wende besucht hat, ist ja trotzdem geblieben, und es wurde in der DDR sorgfältig ausgewählt und darauf getrimmt, aus den Schülern sogenannte “sozialistische Persönlichkeiten” im Sinne des Regimes zu entwickeln – auf ein erfülltes Leben in der bundesdeutschen Demokratie konnten und wollten sie einen vielleicht auch gar nicht vorbereiten, weil sie es selbst noch gar nicht aus eigener Lebenserfahrung kannten und manchmal sogar ablehnten. Wie positiv überrascht war ich Mitte der 1990er, als ich als Schüler einmal einen Tag Einblick in den Unterricht einer Schule in Nordrhein-Westfalen erhalten habe! Das war eine andere Welt, schon von der Atmosphäre her.
Man hat nach dem Zusammenbruch der DDR auf größere, vielleicht auch schwer umsetzbare Maßnahmen in der Besetzung des Bildungspersonals verzichtet, und muss nun damit leben, dass das, was in Jahrzehnten zerstört wurde, auch wieder Jahrzehnte braucht, um aufgebaut zu werden, und dass es, was wir gerade erleben, harte Rückschläge und vielleicht sogar ein vollständiges Scheitern der Normalisierung Ostdeutschlands geben kann, einem Teil unserer Republik, in dem momentan bereits die Hälfte der Bevölkerung für die Demokratie verloren scheint. Verzweifeln sollten wir nicht, da es in den letzten Jahren trotz allem sehr erfreuliche Entwicklungen gegeben hat, aber wir müssen auch dafür kämpfen, dass unser Land nicht durch die radikalen, sich auf Moskau stützenden und von Moskau gestützten Populisten der AfD und des nach dem Führerprinzip organisierten BSW (die Linke ist mittlerweile und glücklicherweise marginalisiert), aber auch nicht durch die demokratischen Parteien, die sich oft noch weigern, brennende gesellschaftliche Missstände anzuerkennen und zu beheben, in den Abgrund gerissen wird.

Bananen und Volkswägen
Die Ostdeutschen – und ich bin mir sehr bewusst, dass ich hier grob verallgemeinere – haben im Besitz ihrer materialistischen Weltanschauung, die möglicherweise vor allem eine materielle Wertanschauung ist, vielleicht unterschätzt, dass zum Westdeutschsein mehr gehört als nur die Möglichkeit, sich jederzeit Bananen, einmal einen anständigen Volkswagen und immer wieder Urlaube in schönen Ländern kaufen zu können. Jahrzehnte haben sie neidvoll über Mauer und Stacheldraht und in den Fernseher, in dem westdeutsche Sender liefen, geschaut, weil sie das unglücklichere Los der Moskauer Besatzung und Diktatur getroffen hat, um am Ende festzustellen, dass sie immer noch die Ostdeutschen (und obendrein auf den Westen neidische Ostdeutsche) sind, obwohl sich ihre materielle Lage nach dem Fall der Mauer sehr schnell dramatisch verbessert hat, aber das ist eben nur die oberste, die oberflächlichste, nach außen sichtbare Schicht. Auf den inneren Kern, die Seele, jedoch kommt es beim Menschen letztlich an.
Natürlich genießen die von der Diktatur befreiten Ostdeutschen ihre Meinungsfreiheit, genießen sie, endlich das sagen zu können, was sie denken, aber diese Freiheit geht auch mit einer fortwährenden Enttäuschung einher: Du kannst jetzt sagen, was du denkst, allerdings gibt es, sofern alles im Rahmen unserer Gesetze bleibt, erst einmal niemanden mehr, der sich per se dafür interessiert, weil der Staat nicht mehr der argwöhnische und brutale Vater ist, der alles kontrollieren will und jegliche Abweichung drakonisch bestraft. Damit eine Meinung gehört und vielleicht sogar wirksam wird, muss man sie gesellschaftlich organisieren, muss man sich mit anderen Menschen verbinden. Es scheint zurzeit, als würden sich viele Ostdeutsche einen strengen Vater zurückwünschen, der zumindest für geordnete Verhältnisse durch enge Reglementierungen sorgt – selbst wenn er am Ende eine Mutter wäre und Alice oder Sahra hieße.

Mehr Fragen wagen
Mich ärgert es, wenn immer etwas pauschal über den Zahlenfakt “wenige Ostdeutsche in ostdeutschen Führungspositionen” geklagt – und dann noch mit dem Wörtchen “zu” vor “wenige” eine Wertung daraus gemacht wird. Zu einer offenen, ehrlichen Debatte über das Thema gehört für mich auch, zumindest einmal zu fragen, ob wir es nicht nur mit einer strukturellen Benachteiligung durch eigensinnige oder gar ein wenig korrupte Westdeutsche zu tun haben, sondern ob auch andere Gründe vorliegen und identifizierbar sind:
Streben überhaupt vergleichbar viele Ostdeutsche in Führungspositionen, oder scheuen sie es eher, sich in so einer Rolle zu exponieren, trauen sie es sich nicht zu, die Aufgaben, die damit einhergehen, zu lösen, lehnen sie es sogar ab, sich funktional über andere Menschen zu erheben, und besitzen sie neben der fachlichen auch die erforderliche menschliche, kulturelle Bildung? Was ich sagen und anregen will: Wir müssen genauer hinschauen, was die Ursachen für die geringere Repräsentation von Ostdeutschen in ostdeutschen Führungspositionen sind, um diese, wenn wir es tatsächlich für wünschenswert halten sollten, durch wirksame Maßnahmen zu beseitigen. Das dümmste jedoch, was wir tun könnten, und was ja leider immer wieder getan wird, wäre, den zählbaren Fakt durch eine Quotierung rein quantitativ zu manipulieren, weil es dann zu einer positiven Diskriminierung der Unterzähligen und damit zu einer ganz klaren Ungerechtigkeit im Bezugssystem führen würde.

Veröffentlicht am 07.07.2024

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