Gelbe bis braune Ahornblätter, noch gut erhalten, zerrissen oder schon verwesend, liegen nass auf den Bürgersteigen und Straßen hier in einem Wohnviertel im Osten Berlins. Leichte Rutschgefahr besteht.
Es ist November, es ist ganz ordentlich kalt, es ist Mittag, aber keine Ruhe, denn ein hagerer bärtiger Landesgast schreit seine bekopftuchte Frau inmitten einer teilsanierten Plattenbausiedlung minutenlang gnadenlos zusammen, und seine unmäßig wütende Stimme, die einen Strom fremder, gefährlich klingender Worte geifernd, krächzend, überschlagend hervorstößt, hallt von allen Seiten auf Beton treffend erbarmungslos zurück zum Ursprung des Streits, vervielfacht sich bedrohlich. Eine erschütternde Szene. Tausende Augen meist alter Leute erscheinen sorgenvoll bis schockiert an den Fenstern, zu sehen, wer denn da so entsetzlich laut ist und ob die Gewalt rein verbal bleibt, oder nicht doch am Ende ein blitzendes Messer sichtbar und in verletzender Absicht bewegt wird. Man schaut auf die Uhren, um der Polizei später genaue Angaben machen zu können, wenn es gleich zu einem schlimmen Verbrechen kommen sollte, das alle, manche vielleicht gar etwas sehnsüchtig wie eine willkommene Abwechslung in ihrem zu grauen Alltag, erwarten.
So sieht er aus, der Untergang des Abendlandes, ruft der frühere Parteigenosse Werner seiner krummrückigen Frau Ilse empört ins taube rechte Ohr. Die beiden gaffen gemeinsam in ihrer sozialistischen Maßwohnung im vierten Stock aus dem sauberen Küchenfenster. Ach wat, antwortet die kopfschüttelnd, dat allet jehört jetzt zu Deutschland, wirste och noch sehn. Nix werd ick sehen, brummt Werner beleidigt zurück, dann schweigt er grimmig und gafft wieder fieberhaft nach draußen, wo ihm das überlaute Straßenstück brüchigen Eheglücks weiter aufgeführt wird. Och wenn ick so schreien tät, würd mir mein liebs Ilschen nüsch vastehn, denkt er sich mit einem Anflug bitterer Traurigkeit.
Um die Ecke liegt recht verlassen ein Spielplatz, der Freiluftfitnessgeräte zur öffentlichen kostenfreien Nutzung anbietet. Niemand benutzt ihn, nur eine alte Frau befindet sich auf einer Art Liegeergometer, das sich knapp vom Boden abhebt. Unweit von ihm hat sie ihren Rollator abgestellt, jetzt strampelt und strampelt sie auf dem Sportgerät in der Kälte – strampelt tatsächlich rückwärts, als würde sie in ihre Vergangenheit reisen wollen, in der sanfte Umarmungen und geliebte Gesichter auf sie warten, auf denen noch die Farbe heiteren Lebens glänzt. Vergeblich. Es bleibt November zwanzig-vierundzwanzig.
Einige hundert Meter weiter ein Park, in dem ein gelber Kran steht, der eine Plattform in den bleichen Himmel hebt. Menschen arbeiten auf ihr hastig mit scharfen Werkzeugen. Sie nehmen den blattlosen Bäumen die toten Äste, große knorrige Haufen türmen sich unter ihnen am feuchten Boden. Später werden diese von einem Nutzfahrzeug abtransportiert.
Nächstes Jahr wird es kahler, noch viel kahler hier.