Die Sowjetunion 1928. Da fängt noch ein fröhliches Kind Schmetterlinge für
seine Sammlung, bald schon aber schickt man seinen Vater in die Verbannung
nach Irkutsk. Der Grund: Er war ein mäßig erfolgreicher Börsenmakler
während der Zeit von Lenins Neuer Ökonomischer Politik, der NÖP (NEP). Das
bringt ihn in den Ruf eines Volksverräters, offiziell verurteilt man ihn
jedoch wegen rechtstrotzkistischer Neigungen, der Mitgliedschaft in einer konterrevolutionären Organisation. Ein
Beispiel von vielen, wie Stalins politische Maßnahmen die Reihen des Volkes
rücksichtslos lichten, erzählt vom Sohn des Verbannten, der ein
erfolgreicher sowjetischer Schriftsteller wurde.
"Er war angetan von mir, war stolz auf mich, aber er glaubte nicht an
mich. Glaubte nicht, wenn er meine Bücher mit Erzählungen und sogar die
seltenen lobenden Rezensionen über sie las; glaubte nicht, wenn ich ihn
bestens gekleidet am Steuer meines 'Pobeda' durch Moskau fuhr."
Das Verbannungssystem ist perfid und lässt den Vater Zeit seines Lebens
nicht mehr los, obwohl er sich zu einem Enthusiasten des Sowjetsystems
entwickelt, der all seine Kraft in den zweiten Fünf-Jahres-Plan steckt. Wer
einmal ein Volksverräter ist, der ist es immer. Und so wird der Vater schon
bald nach der Freilassung wieder vor Gericht gestellt. Das Vergehen? "[...] alle wußten in gleicher Weise, daß es keinerlei Schuld gab. Das
wußten die, die die Inhaftierten bewachten, ebenso wie die, die sie
verhafteten, und die, die sie der nicht begangenen Verbrechen
beschuldigten; das wußten auch die, die über sie zu Gericht saßen und sie
verurteilten, ebenso wie die, die sie von einem Gefängnis zum anderen
trieben, und die, die mit dem Gewehr in der Hand um den Stacheldraht der
Lager marschierten. Das wußten alle, vom Kleinsten bis zum Größten, vom
Kind bis zum Greis, aber es war, als ob sie sich verabredet hätten, dieses
verhängnisvolle Spiel immer weiter zu spielen." - und das Spiel geht immer weiter.
"Ich gehörte zu der glücklichen und unreinen Generation, die nach der
Revolution geboren ist: ordentlich – so weit die Kräfte reichen, standhaft
– soweit die Kräfte reichen, gut – so weit die Kräfte reichen, mit anderen
Worten: gerade noch in der Lage, zwischen dem eigenen Untergang und dem
Verrat zu wählen" - gesteht sich Nagibin ein und so muss sich auch er für den Verrat
entscheiden, um sich selbst zu retten. Fortan verschweigt er seinen
leiblichen Vater in den offiziellen Formularen, sogar vor seiner Frau, denn
auf den Sohn eines Volksverräters ist kein Verlass, er dürfte keine
Karriere machen. Und so funktionieren alle menschenunwürdigen Systeme:
Jeder möchte nur seine eigene Haut retten, weil er sich ohnmächtig glaubt
und jeder Widerstand nur zu seiner eigenen Vernichtung führen würde. Zu
echten Opfern sind die wenigsten bereit.
Wann "Steh auf und wandle" geschrieben worden ist, ist nicht
bekannt. Es erschien 1987 im Zuge der Perestroika - um ein wenig Licht in
das Dunkel der sowjetischen Geschichte zu bringen.