Als der in Georgien geborene Ukrainer Maksym Eristavi sein Buch “russian colonialism 101. How to Occupy a Neighbour and Get Away with it” im Februar 2024, kurz vor dem zweiten Jahrestag der vollumfänglichen
russischen Invasion der Ukraine, in der Berliner Buchhandlung “do you read
me?” vorstellte, war das Interesse daran so groß, dass der kleine
Verkaufsraum des Geschäfts bis auf den letzten Quadratzentimeter komplett
mit Besuchern gefüllt war; dabei ist diese Publikation, wenn man sie
unparteiisch betrachtet und den moralischen Imperativ einmal beiseite
lässt, die gerechte Sache der Ukraine in wirklich allen Belangen zu
unterstützen, nicht viel mehr als die typographische und künstlerische
Ausschmückung eines erfolgreichen Threads über den russischen
Kolonialismus, den der Autor im Jahr 2022 auf Twitter veröffentlicht hat,
aber er hat damit doch einen wichtigen Nerv der Zeit getroffen, denn die
bis zum heutigen Tag reichende immense Gewaltgeschichte Russlands geht uns
alle, ob wir es wollen oder nicht, etwas an.
Ein wenig Zahlenmagie
Auf dieser spätwinterlichen Veranstaltung war der Journalist Eristavi sehr
ehrlich, als er über sein Buch sprach, es ist eben augenscheinlich keine
wissenschaftliche Abhandlung und nicht einmal ein gewöhnlicher Titel1: Neben den vielen beeindruckenden Grafiken, die verschiedene ukrainische
Künstler beigesteuert haben, bietet das Buch wenige Inhalte, immer nur
kurze Texte zu zahlreichen Verbrechen, die Moskau in seinen verschiedenen
Erscheinungsformen an den Völkern und Staaten in seiner Nachbarschaft
begangen hat. Eristavi beschrieb sein Buch bei der Veranstaltung als
“Gesprächsanreger”, und dieser Begriff scheint mir einigermaßen treffend
gewählt zu sein, mit etwas kritischeren Augen betrachtet hat das Buch aber,
obwohl es 20 EUR kostet, vielleicht auch nur einen rein symbolischen Wert,
weil es einmal kompakt darstellt, welche Ungeheuerlichkeiten Moskau allein
seit dem Jahr 1911 bis heute angerichtet hat – und stets ist es dabei
straflos geblieben, mit dem Ergebnis, dass es denkt, immer so weiter machen
zu können. Wenn man sich als Leser fragt, warum denn das Buch mit seiner
Auflistung gerade im Jahr 1911 beginnt, so ist das allein der Zahlenmagie
geschuldet: Der oben bereits erwähnte Twitter-Thread aus dem Jahr 2022
sollte die russischen “Kolonialinvasionen” (Eristavi) der letzten 111 Jahre
darstellen. Auf den Titel hat es die 111, die ja bereits im Jahr 2023
hinfällig war, dann aber nicht geschafft, dort steht die 101 …
Das immergleiche Muster
Auch wenn ich mich mit meinem Lob dafür bisher zurückgehalten habe, ist
“russian colonialism 101” kein vollkommen überflüssiges Buch. In ihm
erfährt man beispielsweise, was die Russen Anfang bis Mitte des 20.
Jahrhunderts in Tannu-Tavu oder im Iran getrieben haben – und man kann sehr
deutlich erkennen, wenn man es nicht ohnehin schon gewusst hat, dass die
aktuelle russische Aggression gegen die Ukraine, die bereits im Jahr 2014
begonnen hat, nur eines der frischeren Kapitel der blutigen Geschichte ist,
welche Russland mit Gewalt seit Jahrhunderten schreibt. Niemand sollte sich
falsche Hoffnungen machen – das ist auch ein Schluss, den man aus dem Buch
ziehen kann, das ja nur verwandte historische Ereignisse prägnant
aneinanderreiht und damit das immergleiche Muster herausarbeitet, nach dem
Russland vorgeht: Solange Russland besteht, wird diese Geschichte
fortgeschrieben werden, denn Russland ist nichts anderes als eben diese
Geschichte. Wenn es darauf verzichten würde, diese blutige Geschichte
fortzuschreiben, müsste es auf sich selbst verzichten. Dazu ist es leider
noch nicht bereit, und aktuell ist niemand so stark, um es dahin zu
bringen, aber in den unterdrückten Völkern, die der russische Staat
beherrscht, liegt immerhin der Keim für eine bessere, friedlichere Zukunft:
Sie können ihn von innen heraus zersetzen und zerstören.
Vorerst gilt es aber, vor allem der Ukraine zum Sieg zu verhelfen!
Die Schwäche im Triumph
Es ermüdet mich, es wieder und wieder festzustellen: Russland ist ein
menschenfeindliches, kriminelles Gebilde, heutzutage durch das, was es in
der Ukraine macht, sogar ein Terrorstaat, der in Worten oft verurteilt,
aber, wie ich bereits erwähnte, nie für das bestraft worden ist, was er
verbrochen hat, und wir laufen mittelfristig Gefahr, das Land wieder einmal
davonkommen zu lassen, wenn es seinen perversen Angriffskrieg gegen die
Ukraine endlich beendet, weil es irgendwann genügend frustriert worden sein
und selbst gelitten haben wird, denn wir können diesen Krieg Russlands ja
selbst keine Sekunde länger ertragen und sehnen uns so sehr nach einem
gerechten Frieden, der auch uns, die wir gar nicht direkt der russischen
Kriegsgewalt ausgesetzt sind, erlauben wird, das Leben wieder vollständiger
zu genießen, aber in der Stärke des Triumphes liegt immer eine drohende
Schwäche. Der gescheiterte und dadurch gedemütigte unterlegene Verbrecher
wird, wenn man ihn verschont und nicht richtet, seine Kräfte wieder sammeln
können, aus seinen Fehlern lernen und, getrieben von Rachegelüsten, erneut
zuschlagen, während wir es uns arglos in einer in der Sonne schwebenden,
schillernden Seifenblase gemütlich gemacht haben. Ist nicht genau das in
den Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion passiert?
... und das Biest erhob erneut seinen Kopf
Es ist passiert – und die Geschichte könnte sich durchaus ein weiteres Mal
wiederholen, weil wir irgendwann einfach nur noch froh sind, wenn etwas
Ruhe eingekehrt zu sein scheint: Im Jubeltaumel von 1989 bis 1991, als der
Eiserne Vorhang und das russisch-sowjetische Reich des Bösen endlich fiel,
haben nur die wenigsten gesehen, dass wir mitnichten das Ende der
Geschichte erreicht und lediglich eine kleine Verschnaufpause erhalten
haben, bis sich das gemeine Biest im Osten zu neuen Brutalitäten und
Bestialitäten erheben würde, und wenn wir genauer hinschauen, werden wir
feststellen, dass es damit nie wirklich aufgehört hat: Es reicht, hier die
Namen Transnistrien / Moldau, Abchasien und Tschetschenien zu nennen und
auf die 1990er Jahre hinzuweisen. Schon in der Mitte dieses Jahrzehnts war
die Gefahr übrigens real, dass Russland die Krim rauben könnte, man muss
dafür nur ein paar Blicke in die Zeitungsarchive werfen, um zu sehen, was
damals in Russland und in der Ukraine diskutiert wurde.
Wenn wir einmal versuchen, wie ein Unterstützer des russischen Regimes zu
denken, können wir sicherlich verstehen, warum der völkerrechtswidrige Raub
der Krim für Russland so wichtig war. Aus der Perspektive eines solchen
Regimeunterstützers ist, was einmal von Russland besetzt wurde, für immer
Russland, und jeder Außenposten des russischen Staates ist zudem das
potenzielle Sprungbrett zu weiteren verheißungsvollen Eroberungen, und so
ist es ja auch schließlich gekommen: Russland hat die Halbinsel Krim im
Jahr 2014 annektiert und 2022 dann dazu benutzt, um in den noch freien
Südosten der Festland-Ukraine einzufallen und große Landstriche mit seinen
Mörderbanden zu besetzen. Weite Landstriche, in denen sich russische
Staatsangehörige seitdem mit der Russifizierung der verbliebenen Ukrainer
“befassen”.
Nicht ohne Grund heißt es aus der Ukraine oft: In der Krim hat der Krieg
angefangen, und dort wird er auch beendet werden. Ich werde den Tag
ausgiebig feiern, an dem er seine Wahrheit beweisen wird.
Der russische Faschismus: Intellektuell kein Gegner
Intellektuell ist die ganze Auseinandersetzung mit Russland, insbesondere
seit 2022, eine sehr undankbare, weil flache und auslaugende Angelegenheit,
in der es nichts zu lernen gibt, in der man nicht wachsen, sondern sich nur
wieder und wieder und wieder wiederholen kann. Ich selbst würde nämlich
viel lieber ganz andere Texte als diesen hier schreiben!
Ihre eigenen Worte und Argumente sind der russischen Regierung nichts
anderes als verbale Mittel der Gewalt, mit der sie ihre militärische Gewalt
einerseits verstärken, andererseits selbige aber dürftig teilweise
rechtfertigen, teilweise verdecken oder gar verleugnen. Alles aber liegt eigentlich für jeden klar sichtbar auf dem Tisch: Russland hat den Krieg begonnen und
ist der ruchlose Täter, dem schnellstmöglich Einhalt geboten werden muss,
damit er nicht immer weitere, immer größere Schäden anrichtet. Punkt.
Die Ukraine ist das Opfer, das man ehrlicherweise nicht einmal einer
Provokation beschuldigen kann, und nur sehr, sehr dumme, verderbte und /
oder gekaufte Leute versuchen, alles umzudrehen: Bei ihnen wird aus dem
Opfer der Täter, aus der Verteidigung Eskalation, aus dem Angriff Russlands
Verteidigung, aus ukrainischen Erfolgen die Gefahr eines Atomkrieges usw.
usf. – und bei all diesen frechen Lügen steigt ihnen nicht einmal ein wenig
rote Farbe ins Gesicht. Mit diesen Menschen, die leider viel zu zahlreich
sind und nicht selten angesehene gesellschaftliche Funktionen ausüben oder
ausgeübt haben2, kann man nicht ernsthaft reden, sie rauben einem nur Ressourcen, sie
halten einen von wichtigeren Dingen ab. Ohne Hand vor dem Mund: Als
zumindest geistige Kollaborateure des russischen Faschismus betreiben sie
seit vielen Jahren ihr dreckiges Geschäft bei uns und versuchen, Einfluss
auf die Bevölkerung und damit auf die Politik zu erlangen. Sie arbeiten für
den Feind, und mit sachlichen Argumenten wird man bei ihnen nichts
ausrichten, da sie sich den russischen Wahngebilden verschrieben haben,
denen sie zumindest nach außen hin ihre unverbrüchliche Treue bis in den
Tod erweisen. Wenn man ihnen Eristavis “russian colonialism 101” gäbe,
würden sie sofort irgendeine beliebige russische Lüge aus ihrem Hut
zaubern, um sich mit dem Buch nicht auseinandersetzen zu müssen.
Gemeinsam für Russland
Mich wundert es nicht, dass die ganz offen pro-russischen Parteien AfD, BSW
und Die Linke gerade in Ostdeutschland so viel Zuspruch an den Wahlurnen
erhalten. Durch ihr gemeinsames Fernbleiben bei der Selenskyj-Rede im
Bundestag im Juni 2024 haben AfD und BSW übrigens bewiesen, wie nahe sie
sich in ihren Positionen gegen die Ukraine und für Russland stehen, wobei
das BSW den Zahlen nach die radikalere von beiden Gruppen ist: Immerhin 5%
der AfDler waren anwesend, als der Präsident der Ukraine sprach. Bei der
von Wagenknecht angeführten BSW-Truppe waren es 0%. Wenn man all die
russische Propaganda, die das BSW verbreitet, zusammennimmt, kann man
durchaus zu dem Schluss kommen, dass diese Vereinigung ein Teil des
politischen Arms des russischen Faschismus in Deutschland ist. Sich hier
vehement Tag für Tag für Putins Kriegsziele einzusetzen, ist aber
augenscheinlich nicht nur legal, es verhilft einem sogar zu beträchtlichen
Sendezeiten im ÖRR. Man kann jetzt gern die Meinungsfreiheit anführen, die
für alle und fast alles gelten soll und geschützt werden muss, aber, und
hier stimme ich sogar direkt mit der Antifa überein: Faschismus ist keine
Meinung.
DDD statt DDR: Diktatursozialisiert, diktaturapologetisch,
diktaturnostalgisch
Die Ostdeutschen sind nach der Hitler- gleich in die nächste Diktatur
geraten, man hat ihnen mit dem sowjet-russischen Marxismus-Leninismus
jahrzehntelang ununterbrochen das Gehirn gewaschen und sie in der DDR, was
ja viel zu selten thematisiert wird, zumindest bis zu einem gewissen Grad
auch mental, “moralisch” und kulturell russifiziert; die meisten waren
Mitläufer, viele aktive Täter, die ihre kleinen Privilegien genossen, und
wenn sie nur darin bestanden, als Teilhaber der Macht andere Menschen
unbehelligt drangsalieren zu können. Es sind tiefe, abnorme Prägungen, die
das damalige Regime bewusst schon in der Kinderkrippe zu schaffen
angefangen hat3, weil sie die Menschen auf die vom Staat gewünschte Lebensbahn bringen
sollten. Diese Prägungen verschwinden nicht, nur weil die Leute später ein
paar DM oder EURO in der Tasche haben. Wenn du im russischen
Herrschaftsbereich aufgewachsen bist, und nichts anderes war ja die DDR,
dann hast du mit deinem ganzen anfangs sehr verletzlichen Körper, schon mit
deiner ganzen empfindlichen kleinen Kinderseele gelernt, dass Macht
identisch mit den Begriffen Wahrheit und Recht ist: Wer die Macht hat, hat
das Recht, und er hat auch die Wahrheit für sich, weil er die Mittel
besitzt, seine anmaßenden und maßlosen Ansprüche und seine eklatante
Faktenfeindlichkeit ohne zivilisierendes Regulativ durchzusetzen. Dieses
Werte- und schließlich Weltverständnis wurde so sehr verinnerlicht, dass es
bei vielen, die keine Systemgegner4 waren und auch später nie reinen Tisch bei sich gemacht haben, ein
einfacher Reflex ist, der immer noch, bevor sich Herz und Verstand
einschalten können, bereits vollendete Tatsachen schafft und Entscheidungen
trifft. In der DDR und in den anderen sowjetisch/russisch besetzten Ländern
hat man im Prinzip versucht, Menschen wie Hunde zu dressieren, damit sie
dem Moskauer Imperialismus nützlich sind und ihm nicht gefährlich werden,
und das ist ein schweres Erbe, eine unheimliche Hypothek, die nur sehr
langsam schwindet. Man braucht sich darüber gar nicht wundern, diese
Hypothek wurde in Teilen sogar an jüngere Generationen weitergegeben, z.B.
weil sie bei den alten DDR-Pädagogen weiterhin in die Schule etc. gehen
mussten …
Ein erschreckend großer Teil der ostdeutschen Bevölkerung wartet vielleicht
auf jemanden, der einfach nur nach ihm pfeift und ihm simple Kommandos in
einem doch einigermaßen ernsten Spiel mit schlichten Strukturen5 gibt, und es scheint ihm vollkommen egal zu sein, ob dieser Mensch Höcke,
Wagenknecht oder Putin heißt. Diese bedauernswerten Menschen projizieren
schon jetzt ihre persönlichen, im ostdeutschen Unrechtsstaat erworbenen
Reflexe auf die Ukraine: Als Ukraine bzw. Ukrainer würden sie sich
besetzen, vielleicht auch foltern, vergewaltigen, verkrüppeln und ermorden
lassen, aber sie würden noch mehr einige nicht zu kleine Hoffnungen darauf
setzen, dass, wenn sie sich nur schön duckten und immer recht klein
machten, wie sie es ja auch früher schon nicht zu ihrem Nachteil getan
haben, und dem neuen russischen Herren artig dienten, sie von ihm verschont
oder mit dem einen oder anderen Leckerli oder gar einer etwas schöneren,
etwas größeren Hundehütte als der Nachbarshund sie hat, belohnt werden
würden.
Warum? – fragen wir zu Recht mit weit aufgesperrtem Mund und entsetzten
Augen.
Warum, warum?? Warum all das Unrecht erdulden oder gar zum Mittäter werden?
Weil das Unrecht ja für diese Leute durch die Macht geschützt und damit
tatsächlich Recht, nichts als Recht ist! – und weil man auch vom Unrecht in
einem Unrechtsstaat profitieren kann, wenn man nur immer brav auf der Seite
der Macht steht. Hier und da mag einer ins Getriebe geraten: Tja, Pech für
ihn, denkt sich der Unrechtträger, aber jeder freigewordene Stuhl ist doch
auch einer, auf den er sich selbst potenziell setzen kann!
Der einzige Ausweg aus diesen Abgründen ist, dem Unrecht seine Macht zu
entziehen.
Darauf unerlässlich hinzuarbeiten, ist Teil der Aufgaben eines jeden
moralisch intakten Menschen.
Man muss es jeden Tag aufs Neue anpacken.