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Idiotenführer durch die russische Literatur

Sir Galahad

Sir Galahads “Idiotenführer durch die russische Literatur”, der 1925 im Albert Langen Verlag (München) erschien, ist ein Kuriosum, das längst vergessen sein würde, wenn das Ende der Geschichte, von dem Francis Fukuyama 1992 einst schrieb, und das der russische Philosoph Wladimir Sergejewitsch Solowjow bereits viel früher, nämlich im Jahr 1900, im Titel eines dialogischen Werkes gebrauchte (“Krieg, Fortschritt und das Ende der Geschichte”), tatsächlich eingetreten wäre. Das ist es aber nicht, da die wichtigste seiner Bedingungen der Frieden ist, und ist es ja offensichtlich, dass Menschen weiterhin Kriege führen, und dass sich Russland nach einer kurzen Phase der Schwäche nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder als Tyrann und eine Geißel der Menschheit aufgeschwungen hat. Warum es so gekommen ist, will verstanden werden, und damit es verstanden werden kann, muss man in die Geschichte des russischen Gewaltprojekts schauen und sich auch mit den Gedanken, die seine maßgeblichen Vertreter formuliert haben, befassen. Zu diesen Vertretern gehören natürlich auch seine Schriftsteller, von denen sich nicht wenige einen Platz in der Weltliteratur gesichert zu haben scheinen.

Dem Rückgrat der Welt
Sir Galahad ist ein Pseudonym von Bertha Eckstein-Diener (1874–1948). Eckstein-Diener war Schriftsteller und Reisejournalist, mit “Mütter und Amazonen” hat sie einen Klassiker der Matriarchatsforschung verfasst. Der “Idiotenführer durch die russische Literatur” entstand vor dem Hintergrund des erfolgreichen bolschewistischen Umsturzes in Russland: Man hatte dort den Marxismus aus Europa importiert und als terroristische Diktatur installiert, der Abermillionen Menschen zum Opfer fallen sollten. Die Position von Eckstein-Diener wird bereits in der Widmung des Buches angedeutet: “Dem Rückgrat der Welt” heißt es darin. Das ist nicht ganz klar und interpretationswürdig – aber so ist auch der Einstieg in den Text, den ein “Gestalt” betiteltes Kapitel bildet. Hier werden grobe esoterische Geschütze aufgefahren, es wird wild und nebulös kosmogonisch fabuliert, man spürt, wie einem ein Sturm spät-expressionistischen Wortüberschwanges ins Gesicht bläst und muss sich doch fragen: Was möchte der Schriftsteller uns damit sagen? Offenbar will er nur seine Wortkunst, in die er verliebt zu sein scheint, zur Schau stellen und den Besitz höheren Wissens andeuten, um sich beim Leser Autorität zu erheischen, aber das misslingt kräftig, vor allem auch, weil überhaupt nicht klar wird, was nun der Bezug zum Titel des Buches sein soll. Ich muss es kurz zitieren, damit deutlich wird, womit wir es zu tun haben:

Zitat:

Gestalt ist somit Chaos, das Zucht und Bürde der Selbstvollendung auf sich genommen, aufgeweht von einem unirdischen Drüben, gehorsam der »Idee«, oder »Gott« oder wie sonst man es nennen mag; dem eben, was macht, daß ein Klumpen Schleim aufsteht und mit der Zeit ein Leopard wird oder ein Zwetschkenbaum, ein Fisch, eine Blume, ein Etwas, das in seiner Art alles Ja und alles Nein, den inneren Anspruch und den Tod auf sich genommen und ich gesagt hat, um nun dieses ich so schön und genau, so gerade und rein wie möglich bis ans Ende zu gehen. Denn: erst Struktur kann zerfallen, und nur das Chaos steht noch unter Leben und Tod.


Im zweiten Kapitel “Russland” wird dieses der zuvor geschilderten “Gestalt” entgegengestellt, kurz auf seine Geschichte eingegangen, wobei zuerst Bezug auf die Nestorchronik genommen wird. Galahad / Eckstein-Diener stellt fest, dass es eine russische Religion nie gegeben habe, und dass sowieso alles, was Russland an Kultur besäße, nur Importe gewesen seien:

Zitat:

Da dieses uralte Volk – schon in der Steinzeit bewohnten Slawen das ganze Donaubecken – im Jahre Tausend noch kein halbwegs brauchbares Alphabet zustandegebracht, dehnte man den Import auch auf diese Geistgestalt aus, und zwei griechische Mönche lieferten den Russen die »cyrillischen Buchstaben«, wie Byzanz ihnen Religion und Architektur, die Normannen den Staat geliefert hatten. Gerade dies Volk ohne Mythos, ohne Struktur, ohne Religion, ohne Alphabet, doch nicht ohne Größenwahn nennt sich nun Slawen-Slowo: »Menschen des Wortes«, die einzigen, so eine Sprache haben. Weil sie die der andern nicht verstanden, vermeinten sie, jene hätten keine, heißen bis auf den heutigen Tag die Deutschen »Njemzy«: Stumme.


Nachdem dies alles dann erzählt ist, wird Dostojewskij besprochen – wobei dieses Besprechen einem Zerreißen gleichkommt. Galahad ist erbarmungslos, und man kann ihn eigentlich immer nur direkt zitieren, weil es eine undankbare Aufgabe ist, seine Gedanken indirekt wiederzugeben. Man würde sich nämlich dabei die Finger schmutzig machen:

Zitat:

Kein Dostojewski-Mensch ist bildhaft geschaut, noch vermag er bildhaft zu schauen. Vage Bündel zerknitterten Unbehagens, liegen sie meist mit offenem Hemdkragen auf dem fleckigen Wachstuch ihrer Schlafsofas dahin und treiben Seelenonanie, immer vom Angstschweiß irgend eines Erfürchteten pariahaft verklebt; gehen dann, verkrampfte Hörige einer boshaften Schimäre, mit ihrem üblen Tage schwanger. Immer geldbedürftig, dabei unfähig, welches zu verdienen, bleiben sie dauernd von Erbschaften, Darlehen oder anderen Schäbigkeiten abhängig.

Immer knirschend oder zerknirscht, gekränkt oder Kränkung witternd, erlechzend auch, laufen sie ihre entzündeten Nerven entlang, bis in die Enden jeder Manie, ohne daß dies Hemmungslose in ihnen Fülle werden könnte, denn zu Krampf gesteigerte Schwachheit ist es, nicht Überschwang der Kraft.


Solche Ausführungen haben sicherlich einen gewissen Unterhaltungswert und entbehren nicht jeglicher Grundlage, aber man spürt natürlich deutlich, dass hier jemand gewaltig über das Ziel hinausschießt. Schauen wir ein paar Absätze später noch einmal in das Kapitel:

Zitat:

»Ist Gott oder ist Gott nicht?« schreien sie von Zeit zu Zeit einander an. Und jetzt ist er da, dieser Hinschwatz und Herschwatz, der nimmer endende Gehirnschwatz der Weihelosen. Im ungelüfteten Pferch einer rabulistischen Dialektik bis zur Drehkrankheit, religiös steril bis zum Grotesken, geht dieses Gesellschaftsspiel mit Schaum vor den Lippen: »ist Gott oder ist Gott nicht?« Kaugummi wäre edler am Platz, muß durchaus etwas speichelseicht stundenlang von Mund zu Mund gehen. Wie könnte eines höheren Daseins irgendwelcher Strahl einleuchten in diese Fanatiker der Banalität, mit ihrem Gottespendel: ja oder nein, an der trockenen Schnur einer Diurnistenlogik?


Wie viele Sterne kann man Tolstoj geben?
Nachdem Galahad mit Dostojewskij fertig ist, geht er zu Tolstoj über und das ist dann im Prinzip bereits der ganze Überblick über die russische Literatur, den er uns geben möchte. Am Rande werden immer wieder mal Puschkin, Gogol, Turgenjew und auch Gorkij erwähnt, selbst die Schriftsteller des “Silbernen Zeitalters” werden kurz gestreift, aber im Prinzip wird das Buch seinem Titel nicht gerecht, weil es sich fast ausschließlich mit Tolstojewskij, wie einige Ukrainer heute die beiden großen russischen Romanciers abwertend bezeichnen, befasst. Für mich persönlich gehört Lew Tolstoj neben Thomas Mann zu den überbewertetsten Schriftstellern überhaupt, aber das ist ja nur meine Meinung. Seine frühen autobiographischen Werke Kindheit, Knabenjahre und Jugendzeit zähle ich noch zu dem besten, was er produziert hat, auch wenn die Eitelkeit ein wenig zu oft daraus spricht, der Rest ist quasi dünne Luft, die jahrzehntelang gnadenlos von “Literaturfreunden” hochgejazzt wurde, so dass sich kaum einer noch traut, das Werturteil, die Kanonisierung zu hinterfragen, weil es letztlich eine vergebliche Mühe sein könnte: Gegen eine sture Herde kommt man nicht an.
Was möchte uns Galahad zu Tolstoj mitteilen?

Zitat:

In »Krieg und Frieden«, Tolstois berühmtestem Werk, stehen gleich zwei Leitidioten russischen Menschentums: der Generalissimus Kutusow, rinnäugig, senil schnaufend, unsauber und der Muschik Platon Karatajew wider die gedunsene Null Napoleon, diesen Jammerkerl, der sich, in Tolstois Augen das Nadir an Verworfenheit, den weißen Leib täglich – jawohl täglich – mit Eau de Cologne abreiben läßt.


Aber so schlecht ist “Krieg und Frieden” nun auch nicht, es habe immerhin einen oder zwei Sterne verdient – auf einer nicht näher beschriebenen Skala, vor der man aber annehmen darf, dass sie vielleicht fünf Stufen hat. Das ist natürlich ein vergiftetes Lob:

Zitat:

Krieg und Frieden, das Standardwerk Tolstois, zeigt ihn auch sonst als Künstler wohl zum Besten. Es ist ein gut gefügtes Epos, ähnlich jenen weitläufigen Gebäuden, im unbestimmten Stil des Nach-Empire, wie man sie zuweilen in großen Provinzialstädten findet. Sie verdienen als kennenswürdig einen Stern, vielleicht sogar zwei. Man geht durch viele gut geteilte Räume, in den Fenstern steht eine dinglich-deutliche, nüchterne Landschaft, innen vorzügliche Familienporträts, beziehungsreich und sichern Griffs verteilte Generalstabkarten, Schlachtenbilder, eine zwergische Karikatur Napoleons aus schwammiger Masse zeigt unsaubern Daumenabdruck, dann noch mehr Familienporträts; man besieht alles gewissenhaft vom Anfang bis zum Ende, man geht wieder, objektiv befriedigt, und kommt nie mehr hierher. Es war wenig von seelischem Haften, nichts von neuer Heimat. Und nicht bricht aus kühnerem Aufriß tiefere Perspektive als eines weihevolleren Raums Zusammenschau.


Das alles wäre halbwegs erfrischend zu lesen, wenn es nicht noch mit einem widerlichen Antisemitismus gespickt wäre, der einen nur schaudernd zurücklässt und den Autoren komplett unmöglich macht. Von dem Antisemitismus möchte ich keine Beispiele zeigen, auch wenn sie zahlreich sind; wer will, kann sich selbst überzeugen: Die Erstauflage von 1925 wurde 20.000 Mal gedruckt und ist noch antiquarisch erhältlich – zudem findet sich der volle Text des Werkes auf der Webseite des “Projekt Gutenberg”, wobei man sich schon fragen muss, wie das sein kann …

Feuer mit Feuer bekämpfen?
Galahad arbeitet mit einem extrem breiten Pinsel, Zitate in seinem Werk sind nicht gut nachprüfbar angegeben, aber bereits die Eingangsmotti zeigen, wie vorsichtig man beim Lesen sein muss. Da wird beispielsweise aus den politischen Schriften Dostojewskijs, genau genommen aus seinem “Tagebuch eines Schriftstellers”, zitiert:

Zitat:

»Alle Menschen müssen russisch werden, als Erstes und vor allen Dingen russisch werden. Ist die Allmenschheit die russische Nationalidee, so muß vor allem erst Jeder Russe werden.«


Und so, wie es da steht, ist es natürlich absolut empörend, weil es ja nahelegt, dass Dostojewskij der Ansicht war, dass alle Menschen Russen werden sollen: So platt hat er es wahrscheinlich nirgendwo ausgedrückt. In der Piper-Ausgabe des “Tagebuch eines Schriftstellers” von 1963 heisst die Stelle hingegen – und ich zitiere absichtlich etwas länger, damit mehr vom Kontext sichtbar wird:

Zitat:

Was sollen wir da nun tun? Als erstes und vor allen Dingen: Russen werden. Ist die Allmenschheit die russische Nationalidee, so muß vor allem ein jeder von uns erst Russe werden, das bedeutet aber so viel wie: „er selbst“. Dann wird sich vom ersten Schritt an alles verändern. Russe werden heißt aufhören, sein eigenes Volk zu verachten. Sobald der Europäer sieht, daß wir unser Volk und unsere Nationalität achten, wird er sofort auch uns achten. In der Tat, je stärker und selbständiger wir uns in unserem nationalen Geiste entwickeln würden, desto stärkeren und tieferen Widerhall dürften wir im Europäer finden und ihm sofort verständlicher werden. Dann würde man uns auch nicht mehr hochmütig loswerden wollen, sondern würde uns gern zuhören.


Wie eingangs gesagt: Sir Galahads “Idiotenführer durch die russische Literatur” ist ein Kuriosum, keineswegs ein “Russische Literatur für Dummies”, zudem entspricht sein Titel nicht ganz seinem Inhalt. Das Buch enthält zahlreiche scharfe Polemiken, die manchmal einen wahren Kern haben, übernimmt sich dabei aber und begeht schließlich durch die unerträglichen antisemitischen und rassistischen Passagen literarischen Selbstmord. Auch wenn Russland ein großes Übel ist, darf man nicht selbst übel werden, wenn man ihm für das Glück der Menschheit streitend entgegentritt.

Schauen wir noch einmal kurz auf den Schlussteil des Werkes, indem Galahad seine Botschaft prägnant zusammenfasst, jedoch wieder alles Maß verliert (“Rassenfötus” und dergleichen) und vor allem jene kritisiert, die damals in Sowjet-Russland die Zukunft erblickt haben – vielleicht irregeleitet durch die Kenntnis der früheren europäischen Geschichte, in der das sich selbst erschöpft habende zivilisierte Europa, also das Römische Reich, durch die einfallenden Barbaren nach Jahrhunderten der Dunkelheit schließlich einer neuen Entwicklungsstufe zugeführt wurde:

Zitat:

Wann aber kam aus Rußland auf einen Lebensruf je eine reine, freie, eigene Antwort? Wo ist da der triumphierende Frühling eines siegreichen Blutes, der jetzt aufstünde gegen die Toten? Dieser uralten Masse ohne Mythos, ohne Pantheon, ohne Alphabet, ohne Geschichte, ohne Philosophie, Plastik und Drama wird jegliches Versagen auch jetzt noch von Interessenten als Berufung ausgelegt. Eben weil es nichts sei, könne es ja noch alles werden, wird uns verkündet. Seine Ungestalt soll Plasma, seine Verwesung Essenz sein. Man begreife doch endlich, daß dieses Rußland nichts ist als eine ungeheure merzerisierte Fötalmasse, ein überreifer Rassenfötus, längst in verpestende Fäulnis übergegangen, weil er zu träg war und zu feig von je, um sich, rechtzeitig gestaltet, auszutreiben ins Licht. Darum ist es der Feind und nicht das Ziel.


Es ist leider noch immer unbestreitbar richtig, auch wenn Galahads Feststellung endlos schmerzt: Russland ist der Feind und nicht das Ziel. Es besteht kaum Hoffnung, dass sich daran je etwas ändern wird, denn die Gegenzivilisation ist Russlands gründende und eigentliche Idee.

Diese Rezension schrieb:
Arne-Wigand Baganz (2023-08-05)

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