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Ethik & Poetik

Stanislaw Baranczak

In seinem Leben wird man nicht vermeiden können, sich zu irren. Dass der polnische Dichter, Literaturwissenschaftler und Übersetzer Stanislaw Baranczak (1946–2014) im Jahr 1967 der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR), der führenden politischen Kraft der kommunistischen Diktatur in Polen, als Mitglied beitrat, mag ein solcher Fehler gewesen sein. Diesen Fehler korrigierte Baranczak erst 1975, und die PZPR selbst löste sich einige Jahre später – anders als bei uns die SED – 1990 auf. Bei «Edition Faust» ist nun ein Sammelband von Stanislaw Baranczak erschienen, der den schwergewichtigen Titel «Ethik & Poetik» trägt. Im polnischen Original heißt das Buch «Etyka i poetyka» und wurde erstmalig im Jahr 1979 im renommierten Exil-Verlag «Instytut Literacki» in Paris herausgegeben, zwei Jahre später noch einmal als Samisdat, damit es auch in Polen zirkulieren konnte. Erst im Jahr 2008 erlebte «Ethik & Poetik» eine ordentliche Ausgabe im nun freien Polen.

Was ist an diesem Buch so herausragend, dass es endlich auch bei uns in einer deutschen Übersetzung mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat erscheint? Die Skizzen, Essays und Rezensionen aus den Jahren 1970 bis 1978 sind in erster Linie ein bewegendes Dokument ihrer Zeit: Der sowjetisch verordnete Sozialismus geriet in Polen in den 1970er Jahren in immer größere Schwierigkeiten, das Volk wurde aufmüpfiger und viele Menschen kamen zu der Überzeugung, dass er nicht mehr zu retten war und eher früher als später verschwinden musste. 1980 gipfelte die Unzufriedenheit der Bevölkerung schließlich in der Gründung der freien Gewerkschaft «Solidarnosc», der es nach Jahren des gesamtgesellschaftlichen Kampfes gelang, das kommunistische System in Polen niederzuringen und damit Signale der Hoffnung nach ganz Osteuropa aussandte.

Misstrauen und Wahrheit
Obwohl nun Stanislaw Baranczak zeitweise Mitglied der PZPR war, besaß er einen ziemlich hellen Kopf, der in der Lage war, jenseits der offiziellen Ideologie ganz eigene Gedanken zu produzieren. Es verwundert nicht, dass Baranczak als Dichter die Dichtung, die nach seiner Vorstellung vor allem auf Misstrauen gegenüber den herrschenden Zuständen und einem Streben nach Wahrheit basieren sollte, als Ausgangspunkt für seine Ethik genommen hat. Im Jahr 2023, in dem nun Gedichte so gut wie überhaupt keine gesellschaftliche Rolle mehr spielen, mag uns dieser Standpunkt schwer verständlich erscheinen, aber wir leben glücklicherweise unter gänzlich anderen Bedingungen als der damalige Autor.
Was ist für Baranczak das Besondere an der Dichtung? Für ihn spricht aus ihr die «Stimme des Einzelnen» und nicht «die anonyme Stimme der großen Manipulatoren», wie sie in den staatlichen Massenmedien transportiert wird, um dem Volk eine falsche Realität vorzugaukeln. «Das individuelle Denken steht dem Kollektivglauben, den Sympathien und den Hysterien misstrauisch und kritisch gegenüber» schreibt er in einem Manifest von 1970, die Dichtung zeichnet vor allem ihr «angeborener Individualismus» aus, der den Menschen hilft, trotz entmenschlichender Zustände Mensch zu bleiben. Die Poesie verteidigt also die Würde des Menschen und springt ihm bei, seine Freiheit zu erringen. Wir müssen versuchen, in der Wahrheit zu leben (Vaclav Havel), denn jedes kleine Stück Wahrheit, das sich behaupten kann, bringt ein System, das sich auf Lüge und Hass gründet, dem Zusammenbruch einen Schritt näher.

Trotz allem: Denken
Das ist schließlich das große Wunder mutiger und aufrichtiger Menschen, zu denen wir Baranczak zählen dürfen: Jahrzehntelange allumfassende Propaganda konnte nicht verhindern, dass sie existieren, sich entwickeln und aufklärerisch tätig werden; und das heißt, dass es unter allen Umständen immer Hoffnung gibt, so düster die Gegenwart auch aussehen mag. Baranczak war mit seiner Kritik am kommunistischen Polen, die er in seinen vielen Texten übt, ein ethischer Visionär: Er wusste, dass er auf der Seite der Guten steht, und dass seine Sache eines Tages notwendig gewinnen musste.

Auch das Böse hat übrigens eine Ethik, wahrscheinlich müssen wir sie als «schwarz» kennzeichnen. Baranczak analysierte sie wie folgt:

Zitat:

Autoritäre Ethik ist immer einfach. Es ist einfach, sich einer uns überlegenen Autorität zu unterwerfen, die uns von der Verantwortung, von der Verpflichtung, selbstständig zu denken, von der Notwendigkeit der individuellen Wahl entbindet. Aber sie ist auch verhängnisvoll: Sie setzt den Einzelnen der Gnade dunkler Mächte aus, die ihn in den Abgrund stoßen können, jenseits der Grenze der Menschlichkeit. In unserem Jahrhundert mangelt es hierfür nicht an Beweisen.


Leider gibt es auch in unserem 21. Jahrhundert eine autoritäre Ethik, die in vielen unglücklichen Ländern der Erde praktiziert und gelebt wird, daher ist etliches, was Baranczak in den 1970er Jahren niederschrieb, auch heute noch relevant, aber gar nicht bloß in diesen großen Maßstäben. Wir selbst sehen uns in unserem Alltag immer wieder Autoritäten gegenüberstehen, und dann müssen wir uns entscheiden, wie wir uns ihnen gegenüber verhalten: Wählen wir den einfachen Weg, indem wir vor der Autorität einknicken, schweigen und uns anpassen, oder wählen wir den Widerstand, wenn er uns moralisch gerechtfertigt und damit notwendig erscheint?

Mit welchen Menschen beschäftigt sich Baranczak in seinem Buch? Zum Beispiel mit Dietrich Bonhoeffer, Ossip Mandelstam, Joseph Brodsky und Czeslaw Milosz. Es ist immer klug und lehrreich, häufig sogar bewunderungswürdig, was er über diese Menschen, ihr Tun, Reden und / oder Schreiben zu sagen hat. Wenn ich Stanislaw Baranczak mit einem deutschen Kritiker des ausgehenden 20. Jahrhunderts vergleichen müsste, fällt mir nur Jörg Drews (1938–2009) ein, der sich ähnlich tiefgründig und energisch für das kleine Feld der Poesie eingesetzt hat, allerdings politisch nicht besonders auffällig war. Solche Leute, deren Herz so stark und offen für die Dichtung schlägt, gibt es heute wahrscheinlich nicht mehr; zumindest weiß ich nicht von ihnen.

Sinnlosigkeit und Grausamkeit
Schauen wir uns eine besonders schöne Stelle an, hier schreibt Baranczak über Miloszs «Das Land Ulro» (1977) und kommt dann auf seine eigene Befindlichkeit in dieser schiefen und grotesken Welt des Kommunismus, die Russland ins Leben gerufen hat, zu sprechen:

Zitat:

Eine Epoche später geboren als der Verfasser des Buches, wuchs ich bereits in einer Welt auf, die planmäßig und konsequent aller metaphysischen Werte beraubt wurde; mein Verstand konnte bis zu einem bestimmten Moment als ein klassisches Beispiel geistiger Enterbung dienen. Ich irrte tastend umher, suchte nach Werten, welche die Leere ausfüllen könnten, griff anfänglich zu verschiedenen „Ismen“ und verwarf sie wieder, sobald sie ihre Unmenschlichkeit und Falschheit offenbarten. Und um mich herum hatte ich – wie wir alle – eine Welt, deren Sinnlosigkeit und Grausamkeit abstoßend waren, eine Welt, der man keinesfalls einfach und ohne Einwände hat zustimmen können. Womit konnte ich meine Trotz-allem-Bejahung dieser Welt rechtfertigen? Leider nicht mit dem Glauben, weil mir seine Gnade verwehrt war und bis heute verwehrt bleibt [...]


Ich könnte noch viele weitere Stellen anführen, die ich mir markiert habe, beispielsweise fand ich ein Gegeneinandersetzen der Art der Auflehnung von Maximilian Kolbe und Ulrike Meinhof bemerkenswert oder das Herausstellen der Anpassung des Menschen an die gegebenen Umstände als eine Hauptursache des Bösen. «Ethik & Poetik» ist voller kleiner bewahrenswerter Schätze, und eben nicht nur ein Zeitdokument, das irgendwo in einem Regal ruhig unter Staubmassen in Vergessenheit geraten darf. Es ist Geschichte, die lebt und noch relevant ist, auch wenn Dichtung bei uns scheinbar keine Aufgabe mehr hat und daher kaum einen etwas angeht; und das Buch von Baranczak hilft uns auch, unseren direkten östlichen Nachbarn Polen besser zu verstehen: Seinen schwierigen historischen Weg und seine großen kulturellen und politischen Errungenschaften.

Schlangestehen im Kommunismus
Besonders gern habe ich übrigens die literarisch gestaltete Rezension von Tadeusz Konwickis «Der polnische Komplex» gelesen, ein Roman, der das typische Schlangestehen im Kommunismus zu seinem Inhalt gemacht hat. Junge Leute von heute, die vielleicht ein wenig mit dem Kommunismus liebäugeln, wissen gar nicht mehr, was es bedeutet hat: das Schlangestehen, aber auch der Kommunismus. Kommunismus hieß Leiden, und nicht darüber sprechen dürfen. Wie andere mutige Menschen hat sich Baranczak dagegen aufgelehnt. In einem Reich, in dem alle Brunnen vergiftet waren, hat er aus den eigenen Tiefen geschöpft und das klare Wasser der Wahrheit in logischen Strukturen zutage gefördert. Dabei war er nicht allein, es gab andere wie ihn, welche durch die Kultur die Befreiung des Menschen anstrebten. Heute wissen wir, dass sie siegreich waren und das Reich des Bösen durch den Zusammenbruch des Kommunismus auf die Größe der Russischen Föderation schrumpfte; traurigerweise ist es jedoch weiterhin das Reich des Bösen. Der Kampf ist noch nicht zu Ende – und gegen das Böse allgemein wird er nie zu Ende sein, da es sich immer neu organisiert und das Gute herausfordern muss.

Triumph und Niedergang
Die Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung mit den vom Dichter gewählten Themen in «Ethik & Poetik» hat mich erstaunt: Sie findet sich kaum mehr in der Gegenwart, da die Literatur kein Surrogat für ein nicht gelebtes Leben mehr sein muss; und so hat der Triumph des Menschen über ein spezifisches Böses gewissermaßen auch zu einem literarischen Niedergang geführt. Diesen Preis müssen wir bereit sein zu zahlen, denn Leidlosigkeit ist immer einer Kunst vorzuziehen, die ihren Ursprung hauptsächlich im Leid hat.

Zwei Jahre nach der Veröffentlichung seines Buches im Pariser Exil-Verlag emigrierte Stanislaw Baranczak übrigens in die USA und wurde an der Harvard University Professor für slawische Literaturen. Im kommunistischen Polen konnte er nicht mehr arbeiten und leben.

***

Bibliographische Angaben
Stanislaw Baranczak / Alexandru Bulucz (Hg.)
Ethik und Poetik
Herausgegeben von Alexandru Bulucz, Ewa Czerwiakowski, Michael Krüger
Aus dem Polnischen von Jakub Gawlik, Mateusz Gawlik
Mit einem Vorwort von Adam Zagajewski und einem Nachwort von Krzysztof Biedrzycki
Broschur, 416 Seiten
EUR 28,-

ISBN 978-3-945400-46-3

Diese Rezension schrieb:
Arne-Wigand Baganz (2023-03-13)

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