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Wanderungen durch Rußland

Maxim Gorki

"Ich glaube, dass eine Zeit kommen wird, wo das Werk Gorkis vergessen ist, aber es ist zweifelhaft, ob man auch in tausend Jahren den Menschen Gorki vergessen wird können." - sagte einst Tschechow über seinen Kollegen. Was kann er damit gemeint haben? Schaut man heutzutage in die Buchkataloge, wird man feststellen, dass Gorki wohl schon so gut wie vergessen ist. Lediglich seine frühen Bühnenstücke (Nachtasyl, Sommergäste, Die Kleinbürger - verlegt bei Reclam) und einige Erzählungen ("Der Landstreicher und andere Erzählungen", Insel-Verlag Frankfurt) werden noch als Neuware an den Leser gebracht. Und Nishni Nowgorod, die Geburtsstadt Gorkis, trägt seit 1991 natürlich auch nicht mehr den Namen seines berühmtesten Sohnes. Damit haben wir kurz die aktuelle Lage erfasst, aber noch immer keine Antwort darauf gefunden, wie wir das Tschechow-Zitat verstehen sollen, damit es einen Sinn ergibt. Ich werde später darauf zurückkommen.

Gegenstand dieser Rezension ist das Gorki-Buch "Wanderungen durch Rußland". In der mir vorliegenden 1979er Ausgabe aus dem Aufbau-Verlag enthält es 30 Erzählungen aus den Jahren 1912 bis 1916, denen noch einmal 4 Erzählungen aus den Jahren 1912 bis 1915 vorangestellt sind. Die ersten Erzählungen sind auffallend autobiographisch, so z.B. "Eine Begebenheit aus Makars Leben", in der Gorki seinen frühen Selbstmordversuch schildert. Diese autobiographischen Erzählungen waren Vorarbeiten zu seiner eigentlichen Autobiographie, die als Trilogie vorliegt. Zu ihr gehört auch das Werk "Meine Universitäten", in dem dann die Selbstmord-Szene ausgespart ist und der Leser eben auf die Makar-Erzählung verwiesen wird.

Worum geht es in den anderen Erzählungen? Das ist einfach gesagt: Um das Leben der Menschen im ländlichen Rußland - vor der großen Oktober-Revolution. Gorkis Position hat sich in den mehr als 10 Jahren seit dem Verfassen seines erfolgreichsten Bühnenstückes "Nachtasyl" kaum geändert. Er ist seinem Realismus treu geblieben, verzichtet auf künstlerische Zauberstücke und erreicht so beim Leser eine intensive Wirkung: Gorkis Texte haben die Kraft des Wahrscheinlichen, Echten. Wertungen werden dem Leser überlassen, Gorki konzentriert sich auf die Inhalte, erzählt nur in guter volkstümlicher Tradition seine Geschichten, so z.B. die des Waisenjungen Koska in "Die Gaffer", der unter ein Pferd gerät, stundenlang verletzt auf der Straße herumliegt, zuerst von Schaulustigen begafft, dann alleingelassen, bis er endlich doch in ein Krankenhaus gebracht wird, aber es ist schon zu spät:

"Die Straße herauf kam ein scheckiger Gaul im Schritt vor einem rumpelnden Wagen gegangen, auf dem der angeheiterte Lastfuhrmann Guschtschin hockte und vergnügt an den Zügeln zog. Ein Polizist saß hinten mit dem Rücken zu ihm, und zwischen ihnen stand ein mit Ocker gestrichener kleiner Brettersag." Im Sarg: Koska.

Weitere Erzählungen möchte ich nun nicht aus dem Sammelband herausgreifen. Sie stehen für sich, berichten allesamt von des Menschen Elend und des Menschen Größe. Deswegen finden wir zuweilen auch einen grüblerischen Gorki in ihnen, der aber doch nicht am Leben verzweifelt:

"Und so bin ich wieder allein in der Nacht, auf der lieben Erde, allem gleich fremd und allem gleich nahe, reich vom Leben befruchtet und es nach Kräften befruchtend. Mit jedem Tag werden die Fäden zahlreicher, die mein Herz mit dieser Welt verbinden, und mein Herz speichert Dinge in sich auf, die immer stärker die Liebe zum Leben in ihm wachsen lassen." (Aus: Kalinin)

So spricht ein klares, warmes Herz. Es ist die Stimme der Menschlichkeit.

Gorki sagte einst auf dem ersten Unionskongreß der Sowjetschriftsteller im Jahre 1934: "Wir sind armselige Beobachter der Wirklichkeit". Solch eine Bescheidenheit ist sicherlich selten unangebracht, und doch ist Gorki selbst ein sehr scharfer Beobachter der Wirklichkeit gewesen. Seine Erzählungen haben fast filmischen Charakter. Könnte man heute, da sich der Film als Massenmedium durchgesetzt hat, noch filmisch schreiben? Was spricht dagegen??

Wer Gorki liest, lernt etwas über die Menschen, das Leben - und auch über den Menschen Gorki, der uns auch heute noch seine Geschichten erzählt, wenn man ihm zuhören möchte. Tschechows eingangs zitierter Satz ist freilich Unsinn. Der Mensch Gorki bleibt uns nur durch seine Werke erhalten. Man findet sie in den Bibliotheken und Antiquariaten.

Diese Rezension schrieb:
Arne-Wigand Baganz (2005-12-15)

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