Zwei Jahre nachdem Hamsun seinen Durchbruch mit dem autobiographisch
geprägten "Hunger" hatte, erschien "Mysterien" (1892).
Der Protagonist dieses Romanes ist der knapp 30-jährige Johan Nils Nagel,
der vorgibt, Agronom zu sein und sich für "vermutlich längere
Zeit" in einem Hotel in einer norwegischen Kleinstadt niederlässt.
Seine Kennzeichen sind ein knallgelber Anzug, ein kleines Fläschchen
Blausäure für die eventuelle Verkürzung der Lebenszeit (als Trost!), ein
leerer Geigenkasten für die Wäscheaufbewahrung – und allerlei sonderbare
Ansichten über das Leben. Wo Nagel seine beiden Füße hinbewegt, seine Reden
schwingt, da entsteht ein Skandal, da er nicht der kleinstädtischen Norm
entspricht, die Menschen mit seinem Anderssein verwirrt, kreative Unordnung
ungewollt wie Bluthunde auf ihre starren Lebensmuster hetzt und sie
zerfleischen lässt, was fleischlich ist... "Humbug, nur Humbug, moderner Dekadenzhumbug, Reklame und
Blasiertheit" hört man Nagel schimpfen. "[...] überall nur Läuse, Stinkkäse und Luthers Katechismus", die kleinliche Bürgerlichkeit ist ihm zuwider. Zum Teufel, sagt er sich,
mit der ganzen Zivilisation. Es ist ein noch junger, wütender Hamsun, der
solche Sätze schreibt, einer, der erst zerstören muss, um später alles neu
aufzubauen, einer, der noch weit entfernt ist von der Schollenseligkeit,
die ihm später den Nobelpreis und die Sympathie der Nationalsozialisten
einbringen wird. Gefährlich werden die Töne bei einem feuchten Gelage, das
Nagel veranstaltet, da ist es nicht mehr nur Zivilisationskritik, wenn der
Doktor Stenersen sagt: "Übrigens meinte ich nicht, daß sich nur die Theologen umbringen
sollten. Nein, wir sollten das, Gott verdamm mich, alle tun, die Welt
ausrotten und auf alles pfeifen", sondern verheerender Überdruss, Herbeisehnung eines Massenschlachtens,
das im 20. Jahrhundert mehrfach Wirklichkeit werden sollte. Und das
Giftfläschchen, das Nagel mit sich herumträgt – sollte der Wirkstoff nicht
einmal unter dem Namen "Zyklon B" grausame Berühmtheit erlangen?
"Mysterien" ist vermutlich Hamsuns philosophischstes Werk, es
enthält Ideen, die er auch in seinen aufsehenerregenden Vorträgen vertreten
haben soll. Was aber sind diese Mysterien, um die es im Roman zu gehen
scheint? Zum einen liegen sie in der Figur des Nagel selbst begründet, zum
anderen trifft es die folgende Definition: "Zwischen Himmel und Erde geht so vieles vor, seltsame herrliche Dinge
ohnegleichen und vollkommen unerklärliche Vorahnungen, stumme Schrecken,
die Sie vor Unbehagen erbeben lassen". Der nervöse, sensible Mensch sieht Dinge, die für Vernunft und
Wissenschaft unsichtbar bleiben müssen ---
Was mysteriös angefangen hat, endet ebenso. Steht für den Leser anfangs die
Erforschung von Nagels Persönlichkeit im Vordergrund des Romanes, so nimmt
später ein Liebesdrama eine zentrale Rolle in ihm ein, denn Nagel verliert
sein Herz an die bereits hoffnungslos vergebene Dagny. "Wie mächtig war doch dieses Geschöpf, obwohl sie so ganz gewöhnlich
war, mit einem langen Zopf und einem klugen Herz!" – diese Liebe ist sein Untergang, obwohl er weiss, dass alles, alles nur
Betrug ist, Komödie und Humbug.
Mysterien gehört zu den ganz großen Werken Hamsuns. Punkt.