Aktuell
© 1999-2025 by Arne-Wigand Baganz

Ukraine  Eine Reise durch die Ukraine in 113 Gedichten  Ukraine

Städtische Begegnung III

Start > Prosa > 2025

Das Brandenburger Tor leuchtet in den Farben der Ukraine (Berlin, Februar 2025)

Heute ist der dritte Jahrestag der russischen Vollinvasion, und ich bin mal wieder auf einer Ukraine-Kundgebung, denn es gibt keine Ausrede, dort nicht hinzugehen, nicht einmal die Lungenentzündung, die mich seit Wochen quält und fast getötet hat. Ich mag keine Menschenansammlungen, ich mag es nicht, zu schreien, weder gute noch schlechte Parolen, ich gehöre nicht gern einer Gruppe an, ich trete keinem Verein bei, und wenn er noch so gute Ziele verfolgen sollte. Ich misstraue allen und allem, und dieses Misstrauen habe ich in meiner Kindheit in der DDR schon erworben, aber darum soll es hier gar nicht gehen.

Wir laufen zu Hunderten, zu Tausenden vom Berliner Dom zum Brandenburger Tor, begleitet von Polizisten, die sicherlich auch darauf achtgeben, dass kein geheimnisvoll über das Internet radikalisierter Amokfahrer in uns hineinrast, wie es jetzt traurige Mode geworden ist. Riesige blau-gelbe Fahnen werden geschwungen, von einem Wagen klingen Reden, Menschen tragen Plakate mit Losungen gegen den russischen Krieg, zwei junge Frauen neben mir singen zweistimmig traditionelle ukrainische Weisen, die mir die Tränen in das Gesicht treiben. Wenn ich nur die Texte auswendig kennen würde, könnte ich meinen Bass dazu brummen.

Wir gehen vorbei an der russischen Botschaft, durch deren fette Metallstäbe, die sie vor ihren edel gesinnten Feinden schützen, ich schon im Frühjahr 2014 nach der gewaltsamen und völkerrechtswidrigen Annexion der Krym voller Abscheu gespuckt habe. Geholfen hat es nichts, natürlich nichts, aber ich erinnere mich noch immer an den Hass, der mich damals wie ein wütender Riese geschüttelt hat, und an die Blödheit meiner Ummenschen, die Verständnis für Russland hatten, mit ihm weiter Geschäfte machen wollten oder die meinten, dass sie das alles nichts anginge. Es musste so kommen, wie es gekommen ist. Wir haben Russland unser Geld und unsere Güter gegeben, wir haben es ermuntert und ihm keine Schranken aufgezeigt. Wir haben die Ukraine unter den Bus geworfen, und als sie dort lag und aus vielen Wunden blutete, haben wir ihr noch immer nur sehr zögerlich, sehr wenig geholfen. Wir alle sind schuldig, nicht nur die Russen sind schuldig.

Vor der Botschaft der Völkermörder befindet sich ein improvisiertes Mahnmal für die Ukrainer. Ein paar Meter weiter eines für Alexej Nawalny. Hier die Ukrainer, dort der Russe, der ihnen kein Freund war. Sie bringen alle um. Auch uns werden sie eines Tages umbringen, wenn wir unsere allgemeine Blödheit nicht ablegen und aufrüsten, in jeder Hinsicht aufrüsten und wehr­be­reit werden. Gestern erst war die Bundestagswahl. Knapp 35 Prozent der Wähler haben eine der Parteien gewählt, die Putin gefallen und die seine Politik bei uns umsetzen möchten. 35 Prozent! Und eigentlich müsste man auch noch einen Teil der SPD-Wähler dazurechnen. In was für einem Land lebe ich eigentlich?! Für die Ukraine kann ich mit meinen bescheidenen Mitteln kämpfen, für Deutschland will ich es nicht …

Wir sind am Brandenburger Tor angekommen. Der Umzug ergießt sich, füllt den davor liegenden Pariser Platz. Als ich hier das erste Mal als Kind in den 1980er Jahren stand, gab es noch rot-weiße Absperrungen, vor dem Tor patrouillierten schwerbewaffnete Soldaten der Nationalen Volksarmee. Daran denke ich erst jetzt, da ich davon berichte, vielleicht täusche ich mich aber auch in den Details. Die Abschlusskundgebung beginnt. Ich habe mir einen Platz gesucht, in dem ich am Rande der Menge meine Einsamkeit genießen kann. Ich höre die gleichen Reden, die ich seit drei Jahren höre. Hier geht es nicht um Neuheit, nicht um Stilistik, aber Reden bringt so wenig, auf das Handeln kommt es doch an!

Von der Bühne ruft es “Taurus jetzt!”. Die Menge ruft “Taurus jetzt!” zurück, sogar ich rufe es, obwohl ich nicht denke, dass es besonders viel Sinn macht. “Taurus jetzt!”. Wer hört das Rufen, wer wird darauf reagieren? Niemand, seit Jahren niemand. Der Taurus wäre am Anfang des Krieges viel wichtiger gewesen, damit hätte wohl beispielsweise die Krym-Brücke gesprengt werden können, aber ich bin kein Militär, also gehe ich nicht in die Einzelheiten, von denen ich wenig Ahnung habe.

Ein etwas bleicher und schwarz gekleideter Mann im Rollstuhl bewegt sich direkt auf mich zu. Ihm fehlen beide Beine. Ich ordne ihn zuerst falsch ein. Die Großstadt hat mich verdorben: Sicherlich will er Geld von mir haben, denke ich mir – aber warum denn gerade bei dieser Demonstration! Es ist laut und ich verstehe nicht, was er zu mir spricht. Ich beuge mich tief zu ihm herunter, doch ich verstehe ihn noch immer nicht. Wahrscheinlich ist es ein Ukrainer, nehme ich inzwischen an. Ich rufe auf Ukrainisch laut “Ja ne rosumihju” zu ihm und hoffe, dass mir die Aussprache gelungen ist. Er überlegt kurz, wie und was er mir antworten soll, dann fragt er mich: “English or German?”. “German”, antworte ich ihm, und dann fragt er mich auf Deutsch, wie spät es ist. Ich weiß nicht, wie ich ihm am besten antworten soll, damit er mich gleich versteht: Auf Deutsch, auf Ukrainisch, auf Englisch? Ich entscheide mich für den Sperrbildschirm meines Smartphones: Der zeigt die Zeit ja exakt und unmissverständlich an. Ich halte dem Kriegsversehrten das Display so hin, dass er es lesen kann. Er freut sich, weil er nicht nur die Zahlen, sondern natürlich auch den Hintergrund sieht: Das Wappen der Ukraine auf einer kunstvoll blau-gelb gesprenkelten Fläche, wie sie schon vor dem totalen Angriff Russlands dort zu sehen war. “Djakuju”, sagt der fremde Mann mit glänzenden Augen ein wenig gerührt, “Bud’ch laska!” antworte ich ihm – und mir schießt so vieles durch den Kopf, von dem ich hier besser nichts, besser gar nichts schreibe …

© 2025 by Arne-Wigand Baganz

Aufrufe: 195

Ihre Bewertung dieses Textes:

Vorheriger Text:
Städtische Begegnung I