"Hunger" ist die Novelle, mit deren Erscheinen der norwegische
Dichter Knut Hamsun im Jahre 1890 seinen Weltruhm begründete - wenn ich mit
diesen Worten die Rezension des Werkes beginnen würde, hätte ich es mir
sehr einfach gemacht. Ich nähme mir einfach ein möglicherweise schon leicht
angerostetes Gerüst daher und striche etwas eigene Farbe darüber ---
Hunger ist die aus der Ich-Perspektive erzählte Geschichte eines jungen
Literaten, der sich als freier Journalist bei einer Tageszeitung verdingt.
Er schreibt hauptsächlich für das Feuilleton. Dies allerdings ist ein
harter Beruf, denn meist werden die Texte des Ich-Erzählers, der das ganze
Buch über namenlos bleibt, vom Redakteur abgelehnt, da sie dem Leser
entweder ein zu hohes Niveau abfordern würden oder weil sie schlichtweg zu
hitzig verfasst seien. Der Erzähler lebt schon, als wir ihn kennenlernen,
in völliger Armut. Seine Besitztümer hat er längst alle in das Pfandhaus
getragen, aus seiner Bleibe wird er hinausgeworfen, weil er seit Wochen mit
der Miete im Rückstand ist. Seine einzige Hoffnung ist, dass er eines Tages
wieder einen Artikel schreibt, der von der Tageszeitung angenommen wird und
von dessen Lohn er sich wieder einige Tage ernähren kann, denn der Hunger
ist mittlerweile das den Erzähler dominierende Gefühl geworden.
Der Hunger - er treibt den Erzähler an die Grenzen seiner Existenz, während
er täglich durch die Straßen von Kristiania, jener Stadt, "die keiner verläßt, ehe er von ihr gezeichnet ist", auf der Suche nach einer Arbeit, Essen oder einer Bleibe schleicht.
Manchmal scheint ihm alles nur noch wie eine Halluzination; er treibt
seinen Spaß mit anderen Leuten, die er verachtet, obwohl sich sein besseres
Selbst noch dagegen wehrt. Er ist ein stolzer Mensch, den das Leben zwar
bis auf die Knie in den Dreck drückt, aber er bricht nicht zusammen, selbst
wenn er sich oft kurz davor wähnt.
Neben dem physischen Hunger, der im Nahrungsmangel begründet ist, plagt den
Erzähler vor allem auch der Hunger nach literarischen Eingebungen und dem
daran gekoppelten Erfolg. Oft glaubt er, große Einfälle zu haben, doch
genauso oft verfliegen diese, weil er gerade kein Papier, Licht oder keinen
Platz zum Schreiben hat - oder er zerreisst sein fast fertiggestelltes
Drama in Selbstzweifeln auf der Straße, so dass die Fetzen in die Pfützen
und den Dreck fallen. Der Schriftsteller befindet sich hier noch in seinem
künstlerischen Selbstfindungsprozess. Es ist wie ein permanentes,
schmerzvolles Rennen gegen Wände. Der Kopf ist schon blutig, der Körper von
all den hoffnungslosen Versuchen äußerst geschwächt - und doch gibt es kein
Aufgeben. Irgendwo in dieser Wand muss ein Tor sein, und wenn es nicht
existieren sollte, dann wenigstens würde irgendwann ein Wandabschnitt unter
all dem beständigen Dagegenrennen nach- und den Weg ins Paradies freigeben.
"Langsam begannen meine Gedanken, sich zu sammeln. Ich paßte auf und
schrieb sachte und wohlüberlegt ein paar Seiten als eine Einleitung zu
irgendwas; das konnte ein Anfang zu allem möglichen sein: einer
Reiseschilderung, einem politischen Artikel, je nachdem ich es selbst für
gut hielt. Es war ein ganz vortrefflicher Anfang zu allem möglichen."
Ich-Erzählungen sind nicht jedes Lesers Sache, aber keine andere
Schreibform kann ein höheres Maß an Subjektivität bieten - und dem Leser
damit die Gelegenheit, sich in ein anderes Ich geistig zu versenken und
dessen Leben auf einer imaginären Ebene zu führen. Hamsun gelingt es
ausserordentlich gut, das Maß an Immersion zu schaffen, welches den Leser
nicht mehr loslässt, bis er das Buch durchgelesen hat und beiseite legen
kann.