Der sich selbst erschaffende Mensch: Bürger der Neuzeit, Wilhelm Meister.
Bildung ist ihm mehr als das halbe Leben, der Rest: Streben nach Glück. Die
Lehrjahre, von Goethe in übersatter Sprache dargestellt, als Ganzes: der
Roman einer Epoche, Napoleon soll ihn mehrfach gelesen haben, Lukács hielt
ihm zeit seines Lebens die Treue usw. usf., ach, fragt doch die
Literaturwissenschaftler, wenn ihr weitere Fakten dieser Art zu hören
wünscht!
Wilhelm Meister, wie er vom harmlosen, heimlichen Puppenspiel auf die
Bretter des Theaters gerät, begleitet von plötzlichen Toden, unerwarteten
Freund- und Leidenschaften, Gelagen mit Wein und Sang; eine riesige Farce,
unterbrochen von dozierenden, moralisierenden Einschüben,
Kunstbetrachtungen, Lebensschilderungen. Eine einzige, langatmige Zumutung.
Nichts im Leben ist, wie es scheint. Jemand wirkt und zieht im Dunklen
seine Fäden. Am Ende die Auflösung der zahllosen Mirakel: dieser war jener,
jenes als solches gedacht - wie in einer schlechten, hyperbolischen Komödie
aus Shakespearscher Feder. Die unübertreffliche Sprache als Trost, das
Mittel als Zweck. An dieser Stelle ein Zitat aus dem Sommernachtstraum,
weil in ihm der Geist des Romans steckt:
Nun jag ich euch und führ euch kreuz und quer
Durch Dorn, durch Busch, durch Sumpf, durch Wald.
Bald bin ich Pferd, bald Eber, Hund und Bär,
Erschein als Werwolf und als Feuer bald,
Will grunzen, wiehern, bellen, brummen, flammen
Wie Eber, Pferd, Hund, Bär und Feur zusammen.
Was bleibt zu sagen? So gut wie nichts.
Jede Generation, heißt es ganz zu Recht, muss sich ihre Klassiker neu
erobern und über ihren Wert für die Gegenwart befinden. Ich habe es hier getan! Biedere Gymnasiallehrer werden, wenn sie mit ihrem geeichten Rüssel darauf
stoßen, aufseufzen: Wie kann man sich nur an diesem Heiligtum vergehen!
Welchem Heiligtum?
Und dennoch: "Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden"
- magnetischer Titel! Stachel im Kopf! Werde ich der Lektüre des zweiten Teils entgehen können? Ich glaube nicht.