Ein Februartag in München 1949. Ein Nachkriegsalltag. Wolfgang Koeppen
(1906-1996) hat ihn in seinem 1951 erschienenen Roman "Tauben im Gras" auf der Grundlage seines Erlebthabens erdacht und aufbewahrt. Es ist ein
Roman menschlicher Verstrickungen, der für alle Existierenden
unentrinnbaren Verstrickung in das Sein. Besiegte und Sieger, Ende und
Anfang, Wandel und das was bleibt. Was blieb denn - so die berechtigte
Frage - nach zwölf Jahren faschistischer Barbarei? Man war Nazi bis die
Lichter ausgingen, dann als Kriegsverlierer eine Art Opfer, später
prosperierender Bundesbürger. Widerwärtig war man immer, zumindest ein
bißchen. Denn leben will man ja - so gut es geht. Aber wie lange wird es
gut gehen? Es ist ja schon wieder Krieg, wenn vorerst auch nur ein kalter.
"Tauben im Gras" erinnert an Stefan Georges Gedankenbild vom
"Teppich des Lebens", jedoch ohne den darin enthaltenen
mystischen Schauer. In etwas unter 100 Episoden, die oft durch einen
ähnlichen Gedankengang miteinander verknüpft sind aber Personen- und
Ortswechsel mit sich bringen, stellt uns Koeppen über dreißig Figuren vor: "Hier schlingen menschen [...] Sich fremd zum bund umrahmt" (George). Menschen, diese sich schlingenden Menschen:
Der alte Gepäckträger Josef. Das Ausland kennt er nur aus Kriegseinsätzen.
Heute trägt er dem Schwarzamerikaner Odysseus Cotton sein Radio durch die
Stadt, bis zum Abend, bis zum gewaltsamen Tode. // Philipp, der in
Unproduktivität geratene, in seinem Beruf scheiternde Schriftsteller und
seine Frau Emilia, einst durch Erbschaft bestens begütert, nun ein wenig
vom goldenen Weg abgekommen und Rast am Alkoholstrom suchend. // Washington
Price, ebenfalls Schwarzamerikaner und als Soldat im Ort stationiert,
verbunden mit Carla, die schwanger ist und das Kind eigenmächtig abtreiben
will. Ewiges Drama der Menschheit! // Auch Mr. Edwin, ein amerikanischer
Dichter, der einen Vortrag zu halten in die Stadt gekommen ist, und der die
Ohnmacht seines Wortes gewahren muss. Mächtiger sind die Fäuste der "stolzen und schönen" Burschen, die der Dichter so begehrt und in dunklen Gassen aufsucht. Ein
kurzer Schrei in der Nacht.
So laufen die Schicksale durch die kleine Nachkriegswelt. Gemacht und
selbst gemacht.
Miß Burnett, die als amerikanische Touristin mit ihren Lehrerkollegen
München besucht, denkt sich das auf dem Platz der Nationalsozialisten
stehend so: "[...] die Vögel sind zufällig hier, wir sind zufällig hier, und
vielleicht waren auch die Nazis nur zufällig hier, Hitler war ein Zufall
[...] vielleicht ist die Welt ein grausamer und dummer Zufall Gottes,
keiner weiß warum wir hier sind [...]" (Koeppen, Wolfgang: Tauben im Gras. Frankfurt am Main, 1980. S. 158.). Der
Schwerpunkt liegt nur noch auf dem "gemacht", das "selbst
gemacht" scheint gar nicht auf. Aber der Mensch kann doch handeln,
kann selbst ein Held sein, wenn er in unmenschlichen Zeiten ein Mensch
bleibt, im kleinen, ganz kleinen - dort fängt es an.
Aber ganz von vorn: da fängt der Mensch nur als Neugeborener und das auch
in einer schon vorkonfigurierten Welt an, da fängt er nicht nach dem
Zusammenbruch des Nationalsozialismus, nicht nach dem Zusammenbruch des
Kommunismus an. Die Hoffnung, dass alles ganz anders werde, kann immer nur
enttäuscht werden, da der Mensch seine Geschichte mit sich herumschleppt,
weil sie ihn niederdrückt, auch wenn er schon so viel von ihr meint
abgetragen zu haben und neuen Zielen zustrebt. Koeppen scheint ein
Enttäuschter gewesen zu sein: Ein Intellektueller, dem die Banalität des
Lebens die Füße weggeschlagen hat. Was helfen da Kierkegaard, Nietzsche,
Sartre, was hilft das ganze Gebüch in den Regalen? Wird es doch immer nur
Gebüch sein.
Nach seiner so genannten Trilogie des Scheiterns, welche die Romane "Tauben im Gras", "Treibhaus" (1953) und "Der Tod in Rom" (1954) umfasst, hat Koeppen nicht mehr viel veröffentlicht. Er selbst hat
einmal in einem Interview bekannt: "Es bereitet mir Unbehagen, daß Leute immer fragen: Wann kommt der
nächste Roman?". Da ist er wohl ein wenig wie seine Roman-Figur Philipp. Aber wozu auch
diese zwanghafte Produktivität bis zum Tode, das Nicht-mehr-lassen-Können
von einer Sache, die man einmal angefangen hat? Warum die stumpfen,
eingleisigen Erwartungen der Außenwelt befriedigen, wenn das Leben gar
keine Eisenbahnstrecke ist?
Ich sehe die Tauben fliegen.