Poetische Konfession. Wer bekennt sich hier wem? Es ist der Dichter Johannes R. Becher an seinem Lebensabend, der, zu einer wichtigen politischen Figur in der DDR aufgestiegen, 1953 seine "Gedankendichtung" verfasste, die vor allem für Dichter, Kritiker und in geringerem Maße auch für den gewöhnlichen Leser mit einem weitergehenden Interesse an dem Autoren bedeutsam sein mag. In der Konfession finden sich 268 kleine Texte versammelt, oft haben sie klassische Zitate von Goethe, Klopstock und anderen Größen der deutschen Literaturgeschichte zum Inhalt. Diese Zitate erfahren eine Deutung durch Becher, zeigen seine künstlerischen und weltanschaulichen Prinzipien. Manchmal wirkt dies etwas unlogisch-komisch, z.B. wenn er sich die jedem bekannten Zeilen "Sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief" vornimmt und den Trennungsgrund der Tiefe nicht gelten lassen kann, sondern allein in der Breite sucht. Hier zeigt sich natürlich die subjektive Anschauungsweise eines Meisterschwimmers, der Becher in seiner Jugend war. Aber dies sei nur am Rande bemerkt. Der Duktus des Autoren ist erstaunlich - zwar versteht er sein Werk als "Verteidigung der Poesie", doch herrscht in diesem ein oft autoritär-unterweisender Ton, der einen unweigerlich an den brutal-klaren Stil Maos denken lässt - nüchterne marxistisch-dialektische "Wissenschaftlichkeit". Wie will man sich das erklären? Vielleicht so: Der alternde Dichter möchte seine Weisheiten für die Nachwelt aufbewahren, nicht nur durch sein poetisches Schaffen auf diese einwirken; er zeigt sich dem Leser also mehr als ein Lehrer, und zwar als ein Lehrer streng-energischen Auftretens. Ein solches Verhalten (gemeint sind die Anstrengungen, in der Nachwelt fortleben zu wollen) lässt sich auch beim Brecht der 50er Jahre finden, der sich vor allem um die Ausbildung neuer Schauspieler und Regisseure bemühte und gerade deswegen theoretische Schriften mit hoher Praxisrelevanz verfasste. Indem sich Becher eines solchen wie oben geschilderten Tones bediente, bewies er, dass er sich auf der Höhe seiner Zeit, wie es vom sozialistischen System gefordert wurde, befand. Wie sieht nun so eine Bechersche Weisheit aus?
Zitat: Eine Frage ist an jedes Gedicht gerichtet, und diese Frage lautet: "Ist das wahr, was hier geschrieben steht?" Ein Gedicht muß künstlerisch wahr sein, wobei die künstlerische Wahrheit die Lebenswahrheit einschließt und gleichsam nur eine Art erhöhter Lebenswahrheit darstellt.
Natürlich gibt es eine Reihe von Texten, die vor allem der damaligen Zeit geschuldet sind. Sie drücken übersteigerte Verehrung für die Sowjetunion aus, zeigen die Überlegenheit des Realismus gegenüber reinen Formspielereien (Formalismus), attackieren die Idee des Geworfenseins in das Leben, wie sie vom Existentialismus (Heidegger) vertreten wird usw.; aber es werden auch Probleme der literarischen Kritik geschildert, Überlegungen zu dichterischen Formen wie der des Sonetts, welche der späte Becher als die seine, die ihm gemäße erwählte, angestellt. Die Poetische Konfession ist ein aufschlussreiches Werk, wenn man bestrebt ist, den widersprüchlichen Dichter Becher als auch die schwierigen Zeiten, in denen er gelebt hat, noch genauer zu erfassen. Vielleicht waren es Sätze wie dieser, die dazu führten, dass das Buch in der DDR nur in einer einzigen Auflage erschien:
Zitat: Mancher zeigt sich in seiner ganzen jämmerlichen Machtlosigkeit erst dann, wenn er zur Macht gelangt ist.
Natürlich wissen wir, dass die Geschichte komplizierter ist, als dass sie sich auf einen solchen Satz reduzieren ließe. Immerhin fand die "Poetische Konfession" ihren Weg in das SED-Archiv: In meiner Ausgabe befindet sich ein blauer Stempel "Eigentum: Zentralkommitee der SED. Bibliothek-Archiv. Berlin 54. Wilhelm-Pieck-Str.1". Später allerdings, so lässt eine Streichung erahnen, wurde es in die Universitäts-Bibliothek überführt, bis man es dort aussonderte und es über einen Antiquar den Weg zu mir fand. Abschließendes Geschwätz.