Das 20. Jahrhundert bricht an und für den Jungen Hans Gastl, Sohn eines
Münchener Staatsanwaltes, soll alles anders werden, er will sich bessern -
das gelobt er sich. Doch, so erfährt der Leser in Johannes R. Bechers 1945
erschienenen Ich-Roman "Abschied", ist das Leben voller
Widrigkeiten und die Einhaltung dieses Vorsatzes keine leichte Sache. Der
Vater hat sich vom Stand eines Bauern in den gehobenen kaiserlichen
Staatsdienst emporgearbeitet, aus eigener Kraft, wie er wieder und immer wieder betont, und er hat den Weg seines Sohnes
vorgezeichnet, etwas anständiges soll aus ihm werden, etwas, auf das man
stolz herabblicken kann.
"Während der ganzen Essenszeit drohten Verbotstafeln: 'Achtung! Nicht
schmatzen und schlingen! Achtung! Keinen Fleck machen! Achtung! Den Mund
mit der Serviette abwischen! Achtung! Mit vollem Mund spricht man
nicht!"
Vom rechten Weg darf nicht abgewichen werden, sonst setzt es für Hans
Hiebe. Der Vater ist stolz auf seine Abstammung, er führt eine
Familienchronik: "Kein Katholik, von einem Juden nicht zu reden, hat je in unserer
Familie Aufnahme gefunden, und damit blieb die Ehre der Familie gewahrt bis
auf den heutigen Tag" und Hans ist als einziger Nachkomme dazu bestimmmt, dieses Erbe
fortzusetzen. Deswegen muss er auch den Kontakt zu seinem armen Freund
Hartinger abbrechen, dessen Vater in den Augen des Staatsanwaltes ein
schlimmer Sozialdemokrat ist; ein Umgang, der sich nicht ziemt, der in der
Konsequenz direkt zum Galgen führt. Auch dass Hans seiner Großmutter ein
Goldstück entwendet, wird letztlich dem Hartinger zugeschrieben. Fortan
sind die beiden Jungen dann auch verfeindet, Hans schließt sich den
Draufgängern Feck und Freyschlag an, die seinesgleichen, Buben aus besserem Hause, sind. Gemeinsam terrorisieren sie ihre
Schulklasse und malträtieren insbesondere Hartinger, Hans erhält in
Anlehnung an seinen scharfrichtenden Vater den Spitznamen Henker.
Auf einer Zeitreise von 1900 nach 1914 mitgenommen, erlebt der Leser einen
Hans voller Zweifel an der Welt und wie er versucht, darin den rechten
Platz für sich zu finden. Oft taucht der Selbstmord als Lösung auf ...
"Alle verstellten die Stimme und logen gegeneinander. So ein feines,
zirpendes Stimmchen machten manche, um sich einzuschmeicheln - manchmal
brüllten auch die Lehrer, obwohl es ihnen gar nicht so brüllend zumute war.
Wozu das? Die vielen verstellten Stimmen? Verfügt jeder Mensch über mehrere
- und die eigene, die verschweigt er, oder hat sie verloren?" - fragt sich Hans.
Das Leben ist ein Auftauchen und Verschwinden:
"Spurlos, spurlos, flüsterte ich, spurlos verschwindet so einer nach
dem anderen. Diese Spurlosigkeit beunruhigte mich, und ich fand es
erstaunlich, wie jeder das spurlose Verschwinden des anderen gleichmütig
hinnahm, ohne dabei zu bedenken, daß er auch selbst eines Tages auf
diesselbe spurlose Weise verschwinden müsse."
Eine zeitlang geht Hans voll im Vereinsschwimmen auf, er vergisst seine
Grübelei und sich selbst. Für ihn zählen nur noch die Wasserbahnen, die
Meter und Sekunden bis zum Anschlagen, die Pokale und Siege ... Aber auch
das ist es nicht. Da seine schulischen Leistungen nachlassen, verbietet ihm der Vater
das Schwimmen. Um die dadurch entstandene Leere wieder zu füllen, entdeckt
Hans für sich das Schreiben, das Dichten:
"Vor dem leeren weißen Blatt Papier sitzend, war es mir, als sei
dieses Blatt eine Art Zauberspiegel: alles was mich bedrängte, vermochte er
in seiner schneeweißen Einsamkeit widerzuspiegeln. Was vordem in mir
verstreut und durcheinander lag, ordnete sich bei seinem Anblick und wurde
übersichtlich."
Aber auch das Schreiben wird vom Vater aufgedeckt und als "schöne Schweinerei", die zu unterlassen sei, gebrandmarkt. Selbst aus dem Lesen, das für ihn
bald zu einer Besessenheit wird, obwohl er früher gar nichts auf Bücher
gegeben hat, muss Hans ein Geheimnis machen.
"Ich fand in diesem Buch eine ungeahnte Bestätigung der eigenen
Verworrenheit, das Leben enthüllte sich mir als eine ewige Verwirrung. Als
eine abenteuerliche Irrfahrt von Nichts zu Nichts. Gründe lagen verborgen
hinter Gründen, und in dem Grundlosen, dem Abgrund, lauerte eine
schreckliche Wahrheit."
Um dieser Wahrheit nicht in ihr grässliches Auge schauen zu müssen,
erfindet ein jeder Mensch seinen Schwindel:
"Den Schwindel muss man sich vormachen, um überhaupt das Geborensein
ertragen zu können. Da gibt es einen plumpen Schwindel und einen
geschickteren, einen häßlichen, ganz dummen und einen gescheiten und sehr
schönen, aber alle diese Arten zu schwindeln bezwecken ein und dasselbe:
sich über das Leben hinweg zu schwindeln."
Auch die einstige Schwimmerei ist für Hans nur noch ein solcher Schwindel.
Ein Schwindel, der ihn nicht in das Glück führte. Was soll er denn mit
seinem verfluchten Leben anfangen? In ihm tobt der Konflikt zwischen dem
folgsamen Strammsteher und dem Standhaften - der Standhafte wird und muss
siegen, der Standhafte wird sich als Dichter revolutionären Kreisen
anschließen, er wird vom Sozialismus als einer besseren Gesellschaft
träumen und sich an diese Hoffnung klammern. Dass auch dies nur ein
Schwindel ist, wird dem Leser nicht mitgeteilt, aber vergessen wir nicht,
dass das Buch bereits 1940 geschrieben worden ist.
"Abschied" endet mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in dem
sich das deutsche Volk als ein kriegslüsternes Volk von Strammstehern
entpuppt. Auch die Sozialdemokraten erweisen sich als Verräter, sind
Strammsteher wie selbst die revolutionärsten Gesellschaftsschichten ...
Bechers mit eindeutig autobiographischen Elementen versehener Roman ist
nicht nur inhaltlich eine wirklich lohnende Lektüre, er bezeugt auch das
aussergewöhnliche sprachliche Talent seines Dichters: Der Roman enthält
neben der reinen Erzählform anmutende kristallklare poetische
Schilderungen, die manchmal in einem bedrohlichen Expressionismus
explodieren können oder sich in surrealistisch gehaltenen Träumen elegant
in sich selbst verwirren, so dass man als Leser davon ganz und gar
ergriffen, ja, zuweilen durchgerüttelt wird.
Da nicht einmal der einst von Becher gegründete und noch immer existierende
Aufbau-Verlag das Buch druckt - diese Tatsache ist sicher ein entlarvendes
Armutszeugnis unserer verdorbenen Zeit - kann ich dem geneigten Leser nur
den Besuch eines Antiquariats oder der entsprechenden Plattformen im
Weltnetz empfehlen ...