Weisst Du noch, was Du am 24.02.2022 gemacht hast? Hast Du den russischen
Krieg gegen die Ukraine für möglich oder den bedrohlichen Aufmarsch der
Truppen an der ukrainische Grenze, der schon im Frühjahr 2021 begann, nur
für das übliche Säbelrasseln der Russen gehalten? Wie fühlten sich die
ersten Kriegswochen für Dich an, der Du hier wahrscheinlich im sicheren
Deutschland saßest? Hast Du noch ruhig schlafen, hast Du Dich tagsüber noch
konzentrieren können?
Charkiw – die zweitgrößte Stadt der Ukraine
Sergej Gerassimow, der 1964 in Charkiw in der Ukraine geboren wurde und in
den 1990er Jahren dort Psychologie studierte, präsentiert uns mit
“Feuerpanaroma” seine Tagebuchaufzeichnungen vom 24.02. bis zum 18.04.2022,
also vom Beginn des neuerlichen russischen Krieges gegen die Ukraine bis in
das Frühjahr hinein. Diese Aufzeichnungen sollen uns “Einblicke in
Russlands Überfall auf Charkiw” geben, so ein Teil des Buch-Untertitels.
Sergej Gerassimow lebt nämlich mit seiner Frau im Zentrum von Charkiw im
dritten Stock eines Hochhauses. Er hat vieles mit eigenen Augen gesehen,
das wir nur aus den Nachrichten kennen. Kurz zu der Stadt: Von Charkiw bis
zur russischen Grenze im Norden der Stadt sind es gerade einmal 38
Kilometer; 38 viel zu kurze Kilometer. Charkiw hatte vor dem Krieg 1,5
Millionen Einwohner und war im letzten Jahrhundert für einige Jahre sogar
einmal die Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik. Charkiw ist die
zweitgrößte Stadt der Ukraine, reich an Geschichte, Architektur und Kultur
sowie ein wichtiges Wissenschafts- und Bildungszentrum.
Die existenziellen Dinge des Lebens
Sergej Gerassimow führt uns in seinen Aufzeichnungen durch den
Kriegsalltag, er erzählt uns, wie ihn existenzielle Dinge des Lebens
beschäftigen: Wasser, Nahrungsmittel, Strom, Medikamente, sichere Zuflüchte
in Bombenkellern, in der Metro, Schlaf – schlicht das Überleben. Er
beobachtet, wie der Winter langsam dem Frühling weicht, erinnert sich
daran, was er früher in der Gegend schönes erlebt hat, stellt uns andere
Menschen um ihn herum vor, berichtet von der Allgegenwärtigkeit des
russischen Terrors und Menschenschlangen, immer wieder von
Menschenschlangen, die sich bilden, weil ihre “Bestandteile” Wasser,
Nahrungsmittel oder Medikamente benötigen.
Zitat: Heute bombardieren sie uns länger als sonst. Gegen 10 Uhr abends schauen wir aus dem Fenster und sehen, dass etwas Großes hell brennt und den halben Himmel erstrahlen lässt. Die Wolken sehen über dem nördlichen Teil des Horizonts unheimlich rosa aus.
Die Verfahrensweise des schnellen Schreibens
Im Vorwort von “Feuerpanaroma” erklärt Gerassimow die Verfahrensweise des
schnellen Schreibens und wie sie sich von seinem bisherigen Schaffen als
Autor unterscheidet, denn viel Zeit hat er nicht gehabt, sein Werk zu
verfeinern: Es sind Tagebuchaufzeichnungen, Momentaufnahmen, nahezu
unpoliert, entstanden in den Momenten, in denen er sich nicht um die
existenziellen Dinge des Lebens kümmern muss. Sein Schreiben am Computer
wird manchmal unterbrochen, wenn es zu einem Stromausfall kommt – ein
Notstromaggregat ist ein unbekannter, bisher nicht notwendig gewesener
Luxus. Manche Bemerkungen wiederholen sich in dem Buch, aber das ist ein
sehr kleiner Mangel, der auch in einer künftigen Revision behoben werden
könnte, beispielsweise wird die folgende Anekdote doppelt erwähnt:
Zitat: Während der russischen Revolution von 1905 schossen die Gendarmen auf kleine Kinder, die auf die Zäune geklettert waren, um besser zu sehen, was vor sich ging. Sie schossen sie ab wie Spatzen, nur so zum Spaß. Wahrscheinlich dachten sie, dass es lustig ist zu töten, wenn man damit durchkommen kann. Ich glaube, die Motivation der russischen Waffenträger hat sich in 117 Jahren nicht sehr verändert.
Durchaus Literatur
Generell denke ich, dass sich der Autor nicht zu sehr entschuldigen, zu
sehr in Bescheidenheit üben muss – er versteht ja sein Handwerk. Sein
Tagebuch liest sich auch unter literarischen Gesichtspunkten angenehm, eine
bewusste Gestaltung hat also durchaus stattgefunden und mir scheint es,
dass der Autor alles schon mit dem Ziel zusammengetragen hat, es später
einem Publikum zugänglich zu machen. Das ist ja auch wichtig: Neben den
Bildern, Videos und Reportagen aus dem Krieg sind Berichte wie die von
Gerassimow eine ganz wesentliche Quelle, die uns erlaubt, mehr über die
Geschehnisse in diesem russischen Krieg gegen die Ukraine zu erfahren und
wie sie auf einzelne Menschen gewirkt haben.
Eine Bemerkung am Rande: Nicht jeder Tag hat in dem Kriegstagebuch von
Gerassimow einen Eintrag, dafür habe manche anderen Tage gleich mehrere
Einträge, die sich mit einer bestimmten Thematik befassen.
Das Unbegreifliche begreiflich machen
“Man muss schnell schreiben, wenn man das unter fallenden Bomben und
fliegenden Granaten tut.” – es ist dem Autoren unter diesen Umständen gelungen, ein lesenswertes Buch
zu erschaffen, das zumindest ich selbst ähnlich schnell durchgelesen habe,
wie es geschrieben wurde.
Gerassimow versucht, das Unbegreifliche begreiflich zu machen – aber
letztlich bleibt es unbegreiflich. Man kann erzählen, was zum Krieg geführt
hat, Schritt für Schritt kann man es erzählen, man kann erzählen, was im
Krieg passiert ist, Sekunde für Sekunde, Ort für Ort, Mensch für Mensch und
wird es doch nicht begreifen können: Warum besucht uns die dunkelste Zeit
des 20. Jahrhunderts noch einmal im 21. Jahrhundert? War das nicht schon
alles überwunden? Hätte es nicht überwunden sein müssen?
Niemand hat Bedarf an einem zeitgenössischen Hitler oder Stalin.
Große Nachsichtigkeit
Der Autor von “Feuerpanaroma” ist ein gutmütiger und kulturvoller Mensch,
der sich nicht vorstellen kann, einen anderen Menschen zu töten, auch wenn
es wäre, um das eigene Leben dadurch zu schützen. Die Versuche von
Gerassimow, den Krieg zu rationalisieren, erscheinen mir etwas zu
nachsichtig, nicht aufgeklärt genug. Vielleicht ist sein Denken noch zu
sehr kolonisiert, um zu erkennen, worin die Probleme Russlands bestehen. Er
versucht es psychologisch, mit Rückgriff auf das berühmte
Milgram-Experiment, das in den letzten Jahren stark in Verruf geraten ist,
weil es vermutlich bewusst unsauber durchgeführt wurde, er versucht es
nicht historisch, nicht politisch, nicht soziologisch. Meine persönliche
Auffassung ist, dass sich die Bedrohung für den Weltfrieden, die Russland
seit vielen Jahrhunderten darstellt, aus seiner Struktur ergibt. Es wird
nicht reichen, Putin durch einen Nawalny oder Chodorkowski zu ersetzen,
Russlands Struktur muss sich ändern, das Land muss aufhören, ein Imperium
zu sein, muss geraubte Länder zurückgeben und Nationen wie Tschetschenien
endlich in die Freiheit entlassen – und das wäre nur ein ganz knapp
umrissener Anfang, zu dem noch so viel mehr gehört …
Die Analyse der russischen Propaganda hingegen ist eines der Highlights in
“Feuerpanorama” – hier werden die Unterschiede von Nazi-Deutschland und dem
heutigen Russland sehr deutlich:
Zitat: Inzwischen ist es in der Ukraine üblich geworden, Putins Propaganda mit der von Goebbels zu vergleichen, aber psychologisch gesehen sind sie verschieden. Goebbels hat nie behauptet, dass sich die Juden selbst in Konzentrationslager geschickt und sich dort selbst vernichtet hätten, zu welchem Zwecke auch immer. Das wäre ja lächerlich gewesen. Aber laut den russischen Propagandisten sind es die Ukrainer, die Mariupol bombardieren und die Stadt mitsamt Hunderttausenden von Zivilisten dem Erdboden gleichmachen.
Das besonders schreckliche an dieser Propaganda ist, dass sie bei einigen
älteren Bewohnern Charkiws, die regelmäßig russisches Fernsehen
konsumieren, selbst dann noch verfängt, wenn russische Bomben auf die
Häuser, in denen sie wohnen, regnen. Die russische Propaganda ist ein
extrem starkes Gift. Seine Verbreitung muss mit allen Mitteln unterbunden
werden.
Im Informationskrieg bestehen
Der aktuelle russische Krieg gegen die Ukraine läuft bereits seit 2014, als
Russland die Krim und die ersten Teile des Donbass völkerrechtswidrig
besetzte. Damals war die Ukraine nicht besonders gut vorbereitet auf diese
Entwicklungen, vor allem auch nicht auf den Informationskrieg, der offenbar
zugunsten Russlands ausging, da es sich jahrelang auf diese Ereignisse
vorbereitet und auch im Westen entsprechend eingekauft hatte. Im Jahr 2022
dürfte die Ukraine den Informationskrieg und die Herzen der
Weltgemeinschaft vorerst gewonnen haben, allerdings sind die Sprachrohre
des Kremls beispielsweise in Deutschland immer noch sehr aktiv, um intensiv
gegen die Ukraine zu arbeiten und haben damit bei gewissen
Bevölkerungsschichten leider einigen Erfolg. Ihnen wird eine viel zu große
Bühne geboten.
Der Wahrheit zum Licht verhelfen
Da die kriegerische Auseinandersetzung mit Russland bereits so viele Jahre
läuft, ist auch der literarische Niederschlag immens. Eine Aufgabe der vor
diesem Hintergrund entstandenen Literatur ist, der Wahrheit zum Licht zu
verhelfen und die zahllosen, sich meist selbst widersprechenden russischen
Lügen in den Schatten zu stellen, wo sie hingehören. Das Kriegstagebuch
“Feuerpanorama” steht in einer Reihe mit Werken wie den autobiographischen
Schriften “A Loss: The Story of a Dead Soldier Told by His Sister” von Olesya Khromeychuk oder “In Isolation: Dispatches from Occupied Donbas” von Stanislav Aseyev sowie dem Roman “Graue Bienen” von Andrij Kurkow.
Der Krieg bringt die Menschen zum Schreiben: Sie müssen ihr Leid ausdrücken
und teilen – und zwar nicht nur Schriftsteller, auch “ganz gewöhnliche”
Menschen, so verzeichnet das Internetprojekt “Poesija Wil’nich” der ukrainischen Regierung beispielsweise zurzeit bereits 21.106 Gedichte,
die sich mit dem aktuellen Krieg befassen (erreichbar unter https://warpoetry.mkip.gov.ua ).
Der hohe Geist widersetzt sich
Ich hoffe, dass die Russen, dieses Volk der Täter, deren Tradition die
Sklaverei und der Genozid ist, die literarische Produktion der Ukrainer,
einmal so demutsvoll lesen werden wie wir Deutschen heute die Zeugnisse von
beispielsweise Anne Frank, Elie Wiesel und Paul Celan lesen. Sollen die
Russen alles erfahren über ihre zahllosen Verbrechen gegen die Ukraine!
Sollen sie sich ihrer grandiosen Unmenschlichkeit schämen! Sollen sie sich
endlich bessern – zivilisieren!
Eine Stimme von Millionen
Das Kriegstagebuch von Sergej Gerassimow ist nur eine Stimme von Millionen,
die diesen fürchterlichen Krieg Russlands gegen die Ukraine schildert. Auch
wir, die wir hier in Deutschland noch in Frieden leben, sollten ihr Gehör
schenken, damit wir lernen, was Russlands Aggression bedeutet und die
richtigen Schlüsse daraus ziehen, wie wir mit Russland umgehen, wie wir der
Ukraine heute helfen sollten:
Als wären wir selbst alle Ukrainer!
ISBN: 978-3-423-28315-1
Erscheinungsdatum: 23.06.2022
1. Auflage
256 Seiten
Format: 11,8 x 19,5 cm
Sprache: Deutsch, Übersetzung: Übersetzt von Andreas Breitenstein