"Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" ist der erste Roman von
Robert Musil (1880-1942). Er erschien im Jahre 1906 und spielt im Milieu
einer k.u.k. österreichischen Militärerziehungsanstalt, einem Konvikt in
der Stadt W. Da Musil selbst in der Zeit zwischen 1892-97 militärische
Bildungsinstitute besuchte, um eine angestrebte Offizierslaufbahn
verwirklichen zu können, dürfen wir davon ausgehen, dass die im Roman
geschilderten Handlungen nicht gänzlich abgehoben von jeder Wirklichkeit zu
betrachten sind.
Protagonist des Romans ist, wie der Titel uns bereits nahelegt, der Zögling
Törleß. Dieser ist eine hochsensible, ganz in seinen Gedanken versunkene
Gestalt, die noch nach ihrem Weg im Leben und Antworten auf andere ganz
existentielle Fragen sucht.
"Es hat keinen Zweck. Du hast recht. Aber man darf sich das gar nicht
sagen. Von alldem, was wir den ganzen Tag lang in der Schule tun, - was
davon hat eigentlich einen Zweck? Wovon hat man etwas? Ich meine etwas für
sich haben, - du verstehst? Man weiß am Abend, daß man wieder einen Tag
gelebt hat, daß man so und so viel gelernt hat, man hat dem Stundenplan
genügt, aber man ist dabei leer geblieben, - innerlich, meine ich, man hat
sozusagen einen ganz innerlichen Hunger" entdeckt sich Törleß seinem Kameraden Beineberg, der ihm nicht ganz folgen
kann - und weiter: "Es ist so: Ein ewiges Warten auf etwas, von dem man nichts anderes
weiß, als daß man darauf wartet .... Das ist so langweilig ....".
Törleß treuester Kamerad ist noch die Einsamkeit, auch wenn er immer wieder
zaghaft versucht, Anschluss zur Gemeinschaft zu finden. Seine
Andersartigkeit hindert ihn daran. Äußerlich führt man dies auf ein Heimweh
nach dem Orte seiner Eltern zurück, aber es ist ein ganz anderes Weh, eine
Sehnsucht nach einer inneren Heimat, nach einer Welt, die sich selbst
erklärt und einem Individuum Halt geben kann. Diese lässt sich bei einem
geistig voll befähigten Menschen nicht in vorgefertigten Formeln finden;
nicht in den moralisch-märchenumsponnenen Sentenzen eines Religionslehrers,
nicht in der von außen besehen lückenhaften Logik eines
Mathematikprofessoren.
Erst, als ein Kamerad, nämlich Basini, des Diebstahls an Reiting und
möglicherweise auch anderen überführt wird, gerät Törleß in die Schlingen
sozialer Verantwortung. Gemeinsam beraten Reiting, Beineberg und Törleß,
wie Basini gegenüber zu verfahren sei. Törleß kann sich nichts anderes
denken, als den Dieb öffentlich zu überführen, damit man ihn vom Konvikt
verweise. In Reiting und Beineberg erwachen jedoch ganz andere Gelüste,
nämlich ihre persönliche Macht an einem Menschen zu erproben. Deswegen
überstimmen die beiden Törleß und beginnen ihr erpresserisches
Zerstörungsspiel. Reiting übernimmt hierbei die Rolle eines von niederen
Beweggründen angetriebenen Sadisten, Beineberg schlüpft in die Maske des
Wissenschaftlers, der nach dem Seelengrund Basinis forschen möchte.
Basini wird nun in aller Regelmäßigkeit in einer geheimen Kammer des
Konvikts nächtens mißhandelt - von Reiting und Beineberg physisch und auch
sexuell, von Törleß auf psychische Weise, denn er möchte mehr über die
Beweggründe und das Innere des Delinquenten erfahren.
Die Handlung nimmt noch dramatischere Züge an, die dem künftigen Leser
jedoch nicht vorweg geschildert werden sollen. Der grundlegende Charakter
des Romans ist ja mittlerweile auch aufgezeigt geworden.
In vielen Rezeptionen des Werkes findet sich der Hinweis, dass "Die
Verwirrungen des Zöglings Törleß" die Schilderung der Mechanismen des
aufkommenden Faschismus vorweggenommen habe. Dies ist aber eine viel zu
sehr den eigenen Interessen der Vertreter dieser Meinung nach passend
zurechtgelegte Sichtweise. Wir haben es hier mit einem viel grundlegenderem
menschlichen Phänomen zu tun, nämlich dem Genuß, vollkommen gewissenlos
Macht über andere Menschen ausüben zu können, ohne dabei vor den
schändlichsten Verhaltensweisen halt zu machen und eine Bestrafung von noch
höherer Stelle befürchten zu müssen. Nicht immer endet das bei physischen
oder psychischen Grausamkeiten, es gibt auch ganz andere Ebenen, auf denen
Machtmenschen die Bestätigung für ihr im Grunde so kümmerliches Selbst
finden. Der prügelnde Polizist hat nur ganz primitive Mittel zur Hand
(seinen Gummiknüppel, sein Plexiglasschild, seine Springerstiefel usw
usf), weil er eben selbst nicht über darüber hinausgehende Fähigkeiten
verfügt; ein Hochschulprofessor, der seinen Hintern schon seit Jahren auf
einem sicheren Posten breitsitzt und die Gemütlichkeit in jeder Hinsicht zu
schätzen gelernt hat, bedient sich ganz anderer Werkzeuge - Was für ein
Hochgenuss, mit einem sadistischen Lächeln auf den Lippen und vordergründig
gespielter Freundlichkeit nach eigenem Schlechtdünken Studenten für selbst
empfundene Minderwertigkeitsgefühle durch schlechte Noten abzustrafen und
noch wie Bluthunde gegeneinander aufhetzen zu wollen! ...
"Ein Gedanke preßte Törleß am ganzen Körper zusammen. Sind auch die
Erwachsenen so? Ist die Welt so? Ist es ein allgemeines Gesetz, daß etwas
in uns ist, das stärker, größer, schöner, leidenschaftlicher, dunkler ist
als wir? Worüber wir so wenig Macht haben, daß wir nur ziellos tausend
Samenkörner streuen können, bis aus einem plötzlich eine Saat wie eine
dunkle Flamme schießt, die weit über uns hinauswächst? ... Und in jedem
Nerv seines Körpers bebte ein ungeduldiges Ja als Antwort."
Macht macht Menschen zu oft selbstzufrieden und grausam. Macht macht aus
Predigern des Friedens gleichgültige Todesengel .... Macht wuchert wie ein
bösartiger Krebs und führt zum Exzess, der Menschen knechtet, verletzt und
vernichtet. Für Törleß war "Ja" die Antwort auf die Frage, ob der
Mensch ein Abgrund sei - die Antwort auf die Frage, wie dem zu begegnen
ist, kann nur sein, dass jede Form von direkter zwischenmenschlicher Macht
durch ein gemeinschaftliches Korrektiv gemildert werden muss.