Tsch. Tsch. Tsch. – in meiner Erinnerung hört sich das Schwarze Meer bei vergleichbarem
Windgang immer gleich an, egal ob in Varna, Odesa oder Batumi – in
Bulgarien, der Ukraine oder Georgien; allerdings bin ich auch kein
Meereskundler … und natürlich ist alles trotzdem immer anders und gerade
jetzt gar nichts normal.
Dieses Wochenende sind wir in Varna, suchen etwas Erholung von unserem
Alltag in Deutschland. Es ist Ende März, die Touristensaison beginnt erst
im Mai, und hier hat fast alles noch geschlossen: Hotels, Geschäfte,
Lokale. Hin und wieder sieht man allerdings schon Menschen nach dem rechten
schauen: Hat auch alles den Winter überlebt? Es wird geputzt, gebaut, flott
gemacht.
Ukrainische Gäste im Hotel
Nach einer fast einstündigen Fahrt mit dem Stadtbus und einem kurzen
Fußmarsch kommen wir in unserem Hotel an. Im Erwachsenen-Swimmingpool
stehen einige Dezimeter Regenwasser, Algen bewegen sich leicht hin und her
– auch hier ist man also noch nicht wirklich für die kommende Saison
gerüstet. Wir checken ein. Die Rezeptionistin entschuldigt sich. Wegen der
Flüchtlinge aus der Ukraine sei es mit dem Essen für touristische Gäste
gerade etwas kompliziert. Dreimal täglich gibt es für die Ukrainer feste
Blöcke, in denen sie im Restaurant-Anbau verpflegt werden. Die Zeiten
stehen auf einem Ausdruck, der an der Rezeption in russischer Sprache
ausliegt. Natürlich haben wir für diese Umstände Verständnis.
Wieviele Touristen mögen gerade in diesem Hotel sein? Neben uns vielleicht
noch zwei weitere Parteien – sonst gibt es hier nur Menschen, die vor dem
russischen Angriffskrieg fliehen mussten.
Aus der Heimat geflohen
Auf dem Hof hinter unserem Hotel stehen etliche ukrainische Familienwagen
und SUVs, die meisten haben das Kennzeichen des Oblasts Odesa, durch den
Ort sieht man vereinzelt aber auch Fahrzeuge fahren, die in den Oblasten
Kyjiw, Cherson, Dnipro und Charkiw zugelassen sind. Von Varna nach Odesa
sind es etwas mehr als 600 Kilometer; der Weg führt über die gerade im
Frühjahr schlecht befahrbaren Straßen des ukrainischen Teils von
Bessarabien und dann Rumänien, ab Konstanza meist in Küstennähe des
Schwarzen Meeres. Laut UNHCR sind bereits knapp 4 Millionen Ukrainer aus
ihrem Heimatland geflüchtet (Stand: 27.03.2022), davon halten sich gerade
ungefähr 150.000 in Bulgarien auf (Stand: 22.03.2022).
Immer freundlich
Die diensthabende Rezeptionistin des Hotels ist eine herzliche Frau, zu
allen immer freundlich. Einer ukrainischen Gästin bringt sie einige Worte
Bulgarisch bei. So weit sind die Sprachen nicht voneinander entfernt und es
ist ja schließlich auch eine Frage der Höflichkeit, seinen Gastgebern
sprachlich etwas entgegen zu kommen.
Im gemeinsamen Wohnzimmer
In der Lobby steht ein Tisch mit kleinen Babynahrungsgläsern, dahinter eine
Mikrowelle, um diese schnell zu erwärmen. Neben der Treppe zu den
Hotelzimmern sind Kinderwägen in bunten Farben geparkt, eine kleine
Sitzlandschaft in Apricot ist quasi das gemeinsame Wohnzimmer der Ukrainer:
Es sind ausschließlich Minderjährige, Frauen / Mütter und Ältere, die sich
hier vor allem in den Abendstunden versammeln, 18- bis 60-jährige Männer
dürfen die Ukraine schließlich nicht mehr verlassen. Karten- und
Brettspiele liegen im Raum, ein wenig Spielzeug, Malblöcke. Im “Wohnzimmer”
gibt es freies WLAN, auf den Zimmern kostet es einige Lewa. Im
Fernsehprogramm, das man auf dem Zimmer empfangen kann, gibt es keinen
ukrainischen und nur einen russischen Kanal – dieser wird von einem
staatlichen russischen Unternehmen betrieben, er zeigt also nur die Sicht
des Aggressors …
Die Kinder spielen abends auf ihren Smartphones und Tablets, die Älteren
schauen Nachrichten auf ihren Geräten. Die Stimmung, die in diesem
Wohnzimmer herrscht, ist gar nicht besonders auffällig. Es wird wenig
geredet. Die Leute versuchen, das beste aus ihrer Situation zu machen. Sie
wirken stark, stärker als manch einer von uns …
Putzen aus Dankbarkeit
Am Freitagmorgen ist “Subbotnik” – unbezahlter Putztag. Ich sehe meinen
ersten Subbotnik, der nicht an einem Sonnabend stattfindet. Wir, die wir
nur Touristen sind, wollen das Hotelgelände verlassen. Eine Babusja stellt
sich uns freundlich in den Weg und lächelt uns an: Was denn mit uns wäre,
ob wir nicht am Subbotnik teilnehmen wollten. Ebenso freundlich verneinen
wir. Sie versteht recht bald, dass wir etwas andere Gäste sind.
Am Nachmittag ist das Hotelgelände blank geputzt. Nirgendwo findet man noch
ein welkes Laubblatt aus dem vergangenen Herbst. Schön sieht es aus.
Das Leben geht hier in Bulgarien für die Ukrainer einigermaßen organisiert
weiter. Am Morgen gibt es einen Zahnarzt-Termin für die kleineren Kinder,
für Sonnabend wird zur Teilnahme an einem Meeting für den Frieden in der
Ukraine im Zentrum Varnas aufgerufen, bei dem auch zahlreiche Bulgaren
erscheinen werden.
Zeitvertreiben
Was macht man nun in der Nicht-Saison an der bulgarischen
Schwarzmeer-Küste? Man geht spazieren und wandern, kauft sich Brot und
Wasser in einem der wenigen Läden, die jetzt geöffnet haben, schaut sich
den Strand und das Meer an und hofft, keine Kriegsschiffe am Horizont zu
entdecken.
Manchmal gönnt man sich sogar eine Flasche bulgarischen Weißweins.
Wir sehen eines Morgens, wie ein älteres Ehepaar durch den Ort läuft, es
kommt an einem Nachtclub vorbei. Wie oft ist es bereits an diesem Nachtclub
vorbeigekommen? Der Mann, der offensichtlich schon einige Beschwerden beim
Gehen hat, macht einen etwas schalen Witz: “Warum”, fragt er seine Frau,
“hat dieser Club geschlossen?”. Er zeigt dabei auf einen “Gentleman´s Club”
und liefert den Grund nach einer Gedankenpause: “Weil es ein russischer
Club ist”.
Goodbye, Bulgarien?
Am Nachmittag vor unserer Abreise findet sich ein Drehteam im Ort ein. Es
spricht Deutsch. Zuerst denke ich, dass es vielleicht wegen der Ukrainer
hier ist, aber es stellt sich heraus, dass diese Fernsehleute Material für
“Goodbye, Deutschland” drehen …
Wie lange werden die Ukrainer hier noch in Bulgarien bleiben müssen, wie
lange werden ihre Mittel reichen, hier zu überleben? Und was wird von ihrem
lieben Land, der Ukraine, übrig sein, wenn sie dorthin zurückkehren? Was
werden die Russen bis dahin alles zerstört, wen noch traumatisiert,
verletzt und ermordet haben? Wann wird der lebensbejahende Teil dieser Welt
den tödlichen russischen Imperialismus besiegen?
Abends auf dem Balkon
Ich stehe abends auf dem Balkon und schaue auf das Schwarze Meer
hinaus–hinunter.
Dunkel und friedlich schaut es hier aus, die Küste weiter hoch ist Krieg.
Ich kann das Meer nicht hören, aber ich stelle mir vor, ich wäre jetzt
direkt am Strand:
Tsch. Tsch. Tsch.