Aktuell
© 1999-2024 by Arne-Wigand Baganz

Ukraine  Eine Reise durch die Ukraine in 113 Gedichten  Ukraine

Russlands Kriege, Kunst und Kollaborateure

Start > Artikel > 2022

Iwangorod in Russland, August 2020

Über Menschen, die bereits 2014 und auch heute noch Verständnis für die Aggressionen Russlands hatten bzw. haben.

Moralische und Unmoralische
Wir leben in Kriegszeiten – und wenn diese überhaupt etwas gutes an sich haben, so ist es doch, dass man in ihnen viel klarer sieht, mit welcher Art von Menschen man sich eigentlich umgibt und dann die Spreu vom Weizen, die Moralischen von den Unmoralischen trennen kann. Bereits 2014, als Russland die Krym und Teile des Donbas militärisch besetzte, waren die Reaktionen vieler Leute in Deutschland für mich eine schreckliche Offenbarung. Lügenhafte Narrative schafften es weit in unsere Mainstream-Medien, Personen wie der damalige russische Botschafter in Deutschland, Wladimir Grinin und ambitionierte “Russland-Versteher” wie Harald Kujat oder Gabriele Krone-Schmalz konnten ihre pro-russische Lesart der Geschehnisse kaum hinterfragt und journalistisch sogar hofiert in viele Bevölkerungsschichten tragen. Ich erinnere mich mit Grauen an diese Zeit: Etliche Einwanderer aus Russland trugen hier frech das schwarz-orangene Sankt-Georgs-Band, eine Chiffre für die völkerrechtswidrige Landnahme, durch die Öffentlichkeit, in Berliner Stadtteilen waren Propaganda-Aufkleber der sogenannten Donezker und Luhansker Volksrepubliken zu sehen … In den Kommentarspalten der Online-Medien tobten sich die bezahlten St. Petersburger Trolle aus. Ein inzwischen ehemaliger Kollege mit ostdeutschem Hintergrund war ein wenig frenetisch: “Alle, die ich kenne, sind dafür!” – diese Worte hängen mir noch immer schwer in den Ohren, und er nannte mir sogar ihre Namen. Hatten diese Menschen denn nichts aus den dunkelsten Jahren des 20. Jahrhunderts gelernt? Wie konnte man die offensichtlichen Parallelen im Vorgehen Russlands und Nazi-Deutschlands nicht erkennen?

Diskursgrenzen
Schon damals sind einige persönliche Bekanntschaften an der “Russland-Frage” zerbrochen; und jetzt wiederholt sich alles acht Jahre später auf einem anderen Niveau. Heute fällt es einigen noch leicht, zuzugeben, dass sie Putin “nicht mögen”, aber dann kommt schon dieses zu erwartende, dieses gefürchtete “Aber” und die Rede geht sogleich von der bösen “Osterweiterung” der NATO, den Sicherheitsgarantien, welche die Atommacht Russland angeblich bräuchte, vom drohenden Atomkrieg und so weiter und so fort, und im Osten Europas sei ja sowieso alles schon immer irgendwie nur Russland gewesen, deswegen könne durchaus wieder alles Russland werden.

Das Lieblingsargument der heutigen Russlandversteher, die oft auch schon die damaligen von 2014 gewesen sind, ist nun, dass sich die Ukraine im Februar 2022 einfach hätte ergeben sollen, dann wäre es nicht zu all dem Leid gekommen, dessen mediale Zeugen wir in den letzten Wochen geworden sind. Und wenigstens jetzt solle doch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kapitulieren, um weiteres Blutvergießen zu verhindern. Von einem Einstellen der Kampfhandlungen Russlands sprechen diese Leute nie, ganz so, als wäre es Russlands Recht, diesen völkermörderischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu führen! Über die Ukraine wissen die meisten Russland-Versteher so gut wie gar nichts. Die Ukrainer sind ihnen egal und sie scheuen sich nicht, das teilweise erschreckend explizit zum Ausdruck zu bringen … Das düstere Erbe der Väter, Groß- und Urgroßväter ist noch lebendig!

Russlands Kollaborateure
Es fällt mir nicht leicht, ein solch schäbiges Argumentieren einiger meiner Mitmenschen zu verstehen. Ich versuche es mit groben Thesen: In der DDR hat man gelernt, sich aus Selbstschutz der Macht des vermeintlich Stärkeren zu beugen und eine bisweilen unmenschliche Grausamkeit des Staates als Notwendigkeit zum Erreichen “höherer” Ziele abzutun; also kann man Russlands Verhalten irgendwie entschuldigen. In der BRD hat man gelernt, vor allem auf sich selbst zu schauen. Vor der Wende ging der Blick selten rechts der Elbe, heute reicht er immerhin gerade so bis zu Oder und Neiße. Ganz hinten am östlichen Horizont kommt dann das große und sagenhafte Russland, auf das viele eine naive Romantik projizieren und das zudem als viriler Antipode der gehassten USA wahrgenommen und verehrt wird. Russland lässt man alles durchgehen, in Bezug auf die USA jedoch schreit man bei jeder Kleinigkeit.
Leute, die so denken und reden, sind Russlands Kollaborateure.

Russlands Kunst
Aktuell wird auch wieder versucht, die russische Barbarei, die wir in der Ukraine sehen, durch die monumentale russische Kunst zu relativieren. Schau doch nur, was Russen alles geschaffen haben! Jeder von uns kennt die großen Namen: Puschkin, Tschaikowskij, Dostojewskij, Tolstoj, Solschenizyn usw. usf.; aber das eine wiegt eben das andere nicht auf, vielmehr verhält es sich doch sogar wie folgt: Die russische Hochkultur und der repressive Staat sind schon sehr lange miteinander verwachsen, die Hochkultur wird vom Staat geradezu bedingt. Repressionen haben Künstler in der Vergangenheit dazu getrieben, wunderbare Werke zu erschaffen, so, wie Hitze und hoher Druck in der Lage sind, Diamanten entstehen zu lassen. Die bewunderten Künstler transzendierten die erbarmungslose russische Wirklichkeit, all ihr Leid, mit Mitteln des Geistes, des Herzens und der Seele – und trotzdem würde ich sehr glücklich auf all diese Werke verzichten, weil das eine hellere, heitere Vergangenheit und Gegenwart bedeutete. Außerdem waren Schriftsteller wie Dostojewskij und Solschenizyn trotz allem, was sie selbst erleben mussten, schlimme russische Nationalisten. Wie würden sie zu Putins heutigen neo-imperialen Gelüsten und Aggressionen stehen? Sähe man sie im Luschniki-Stadion dem russischen Diktator huldigen??

Russlands Kriege
Ich gebe es zu: Dieser neuerliche / fortgesetzte russische Krieg gegen die Ukraine hat mich radikalisiert – stärker noch als die “Ereignisse” der letzten acht Jahre. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass die Ukraine siegreich aus diesem Kampf zwischen Freiheit und Tyrannei auf der Seite der Freiheit hervorgeht und versuche das wenige, was ich selbst ausrichten kann, auszurichten.

Ich mache mir jedoch keine Illusionen: Ohne tiefgreifende strukturelle Reformen kommt in Russland nach Putin nur der nächste Putin, Stalin oder Lenin an die Macht; ich traue selbstverständlich auch keinem Nawalny einfach so. Russland ist seit Jahrhunderten nur ein militärischer Komplex, der sich ausdehnt, zusammenzieht und wieder ausdehnt. Mehr noch: Russland ist keine Nation im eigentlichen Sinne des Wortes. Man verzeihe mir den harschen Ausdruck, aber Russland ist, was ja nicht überraschend sein dürfte, nicht durch friedliche Mittel das flächengrößte Land der Welt geworden, sondern, weil es eine kriegerische Genozid-Maschine ist, die ganze Länder und Völker auffrisst – stückweise oder mit einem Mal. Man braucht sich nur die Geschichte des Landes genauer und ohne russische Verklärung anschauen.

Die Zeit der naiven Russland-Romantik sollte für immer vorbei sein. Die Verbrechen, die Russland gerade in der Ukraine begeht, werden diesem Land wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg noch sehr lange nachgetragen werden.

Veröffentlicht am 21.03.2022

© 2022 by Arne-Wigand Baganz

Note: 1 · Aufrufe: 422

Ihre Bewertung dieses Textes:


Vorheriger Text:
Schönheit und Grauen
Nächster Text:
Ukrainisches Wohnzimmer