Moralische und Unmoralische
Wir leben in Kriegszeiten – und wenn diese überhaupt etwas gutes an sich
haben, so ist es doch, dass man in ihnen viel klarer sieht, mit welcher Art
von Menschen man sich eigentlich umgibt und dann die Spreu vom Weizen, die
Moralischen von den Unmoralischen trennen kann. Bereits 2014, als Russland
die Krym und Teile des Donbas militärisch besetzte, waren die Reaktionen
vieler Leute in Deutschland für mich eine schreckliche Offenbarung.
Lügenhafte Narrative schafften es weit in unsere Mainstream-Medien,
Personen wie der damalige russische Botschafter in Deutschland, Wladimir
Grinin und ambitionierte “Russland-Versteher” wie Harald Kujat oder
Gabriele Krone-Schmalz konnten ihre pro-russische Lesart der Geschehnisse
kaum hinterfragt und journalistisch sogar hofiert in viele
Bevölkerungsschichten tragen. Ich erinnere mich mit Grauen an diese Zeit:
Etliche Einwanderer aus Russland trugen hier frech das schwarz-orangene
Sankt-Georgs-Band, eine Chiffre für die völkerrechtswidrige Landnahme,
durch die Öffentlichkeit, in Berliner Stadtteilen waren
Propaganda-Aufkleber der sogenannten Donezker und Luhansker Volksrepubliken
zu sehen … In den Kommentarspalten der Online-Medien tobten sich die
bezahlten St. Petersburger Trolle aus. Ein inzwischen ehemaliger Kollege
mit ostdeutschem Hintergrund war ein wenig frenetisch: “Alle, die ich kenne, sind dafür!” – diese Worte hängen mir noch immer schwer in den Ohren, und er nannte mir
sogar ihre Namen. Hatten diese Menschen denn nichts aus den dunkelsten
Jahren des 20. Jahrhunderts gelernt? Wie konnte man die offensichtlichen
Parallelen im Vorgehen Russlands und Nazi-Deutschlands nicht erkennen?
Diskursgrenzen
Schon damals sind einige persönliche Bekanntschaften an der
“Russland-Frage” zerbrochen; und jetzt wiederholt sich alles acht Jahre
später auf einem anderen Niveau. Heute fällt es einigen noch leicht,
zuzugeben, dass sie Putin “nicht mögen”, aber dann kommt schon dieses zu erwartende, dieses gefürchtete “Aber” und
die Rede geht sogleich von der bösen “Osterweiterung” der NATO, den
Sicherheitsgarantien, welche die Atommacht Russland angeblich bräuchte, vom
drohenden Atomkrieg und so weiter und so fort, und im Osten Europas sei ja
sowieso alles schon immer irgendwie nur Russland gewesen, deswegen könne
durchaus wieder alles Russland werden.
Das Lieblingsargument der heutigen Russlandversteher, die oft auch schon
die damaligen von 2014 gewesen sind, ist nun, dass sich die Ukraine im
Februar 2022 einfach hätte ergeben sollen, dann wäre es nicht zu all dem
Leid gekommen, dessen mediale Zeugen wir in den letzten Wochen geworden
sind. Und wenigstens jetzt solle doch der ukrainische Präsident Wolodymyr
Selenskyj kapitulieren, um weiteres Blutvergießen zu verhindern. Von einem
Einstellen der Kampfhandlungen Russlands sprechen diese Leute nie, ganz so,
als wäre es Russlands Recht, diesen völkermörderischen Angriffskrieg gegen
die Ukraine zu führen! Über die Ukraine wissen die meisten
Russland-Versteher so gut wie gar nichts. Die Ukrainer sind ihnen egal und
sie scheuen sich nicht, das teilweise erschreckend explizit zum Ausdruck zu
bringen … Das düstere Erbe der Väter, Groß- und Urgroßväter ist noch
lebendig!
Russlands Kollaborateure
Es fällt mir nicht leicht, ein solch schäbiges Argumentieren einiger meiner
Mitmenschen zu verstehen. Ich versuche es mit groben Thesen: In der DDR hat
man gelernt, sich aus Selbstschutz der Macht des vermeintlich Stärkeren zu
beugen und eine bisweilen unmenschliche Grausamkeit des Staates als
Notwendigkeit zum Erreichen “höherer” Ziele abzutun; also kann man
Russlands Verhalten irgendwie entschuldigen. In der BRD hat man gelernt,
vor allem auf sich selbst zu schauen. Vor der Wende ging der Blick selten
rechts der Elbe, heute reicht er immerhin gerade so bis zu Oder und Neiße.
Ganz hinten am östlichen Horizont kommt dann das große und sagenhafte
Russland, auf das viele eine naive Romantik projizieren und das zudem als
viriler Antipode der gehassten USA wahrgenommen und verehrt wird. Russland
lässt man alles durchgehen, in Bezug auf die USA jedoch schreit man bei
jeder Kleinigkeit.
Leute, die so denken und reden, sind Russlands Kollaborateure.
Russlands Kunst
Aktuell wird auch wieder versucht, die russische Barbarei, die wir in der
Ukraine sehen, durch die monumentale russische Kunst zu relativieren. Schau doch nur, was Russen alles geschaffen haben! Jeder von uns kennt die großen Namen: Puschkin, Tschaikowskij,
Dostojewskij, Tolstoj, Solschenizyn usw. usf.; aber das eine wiegt eben das
andere nicht auf, vielmehr verhält es sich doch sogar wie folgt: Die
russische Hochkultur und der repressive Staat sind schon sehr lange
miteinander verwachsen, die Hochkultur wird vom Staat geradezu bedingt.
Repressionen haben Künstler in der Vergangenheit dazu getrieben, wunderbare
Werke zu erschaffen, so, wie Hitze und hoher Druck in der Lage sind,
Diamanten entstehen zu lassen. Die bewunderten Künstler transzendierten die
erbarmungslose russische Wirklichkeit, all ihr Leid, mit Mitteln des
Geistes, des Herzens und der Seele – und trotzdem würde ich sehr glücklich
auf all diese Werke verzichten, weil das eine hellere, heitere
Vergangenheit und Gegenwart bedeutete. Außerdem waren Schriftsteller wie
Dostojewskij und Solschenizyn trotz allem, was sie selbst erleben mussten,
schlimme russische Nationalisten. Wie würden sie zu Putins heutigen
neo-imperialen Gelüsten und Aggressionen stehen? Sähe man sie im
Luschniki-Stadion dem russischen Diktator huldigen??
Russlands Kriege
Ich gebe es zu: Dieser neuerliche / fortgesetzte russische Krieg gegen die
Ukraine hat mich radikalisiert – stärker noch als die “Ereignisse” der
letzten acht Jahre. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass die Ukraine
siegreich aus diesem Kampf zwischen Freiheit und Tyrannei auf der Seite der
Freiheit hervorgeht und versuche das wenige, was ich selbst ausrichten
kann, auszurichten.
Ich mache mir jedoch keine Illusionen: Ohne tiefgreifende strukturelle
Reformen kommt in Russland nach Putin nur der nächste Putin, Stalin oder
Lenin an die Macht; ich traue selbstverständlich auch keinem Nawalny
einfach so. Russland ist seit Jahrhunderten nur ein militärischer Komplex,
der sich ausdehnt, zusammenzieht und wieder ausdehnt. Mehr noch: Russland
ist keine Nation im eigentlichen Sinne des Wortes. Man verzeihe mir den
harschen Ausdruck, aber Russland ist, was ja nicht überraschend sein
dürfte, nicht durch friedliche Mittel das flächengrößte Land der Welt
geworden, sondern, weil es eine kriegerische Genozid-Maschine ist, die
ganze Länder und Völker auffrisst – stückweise oder mit einem Mal. Man
braucht sich nur die Geschichte des Landes genauer und ohne russische
Verklärung anschauen.
Die Zeit der naiven Russland-Romantik sollte für immer vorbei sein. Die
Verbrechen, die Russland gerade in der Ukraine begeht, werden diesem Land
wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg noch sehr lange nachgetragen
werden.