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Kulturelle Kollateralschäden

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Graffiti in Most, Tschechien (März 2022)

Was der russische Krieg gegen die Ukraine für die russische Sprache und Kultur im Ausland bedeutet.

Russland führt seit dem 24.02.2022 einen Krieg gegen die Ukraine, den es eigentlich schon seit 8 Jahren führt, den es seit Jahrhunderten führt. Dieser Krieg ist so offensichtlich und so schrecklich, dass er selbst in Deutschland nicht ignoriert werden kann, obwohl hier viele Politiker jahrelang mit Putin kuschelten und ihm direkt oder indirekt halfen, diese Aggression vorzubereiten. In diesen Skandal – und ein Skandal ist es auf jeden Fall – verstrickte Leute wie Manuela Schwesig oder Michael Kretschmer reden sich nun damit heraus, dass sie von Putin getäuscht worden seien. Das wurden sie nicht; sie haben absichtlich weggeschaut, weil es ihnen genützt hat, mit Russland Geschäfte zu machen – trotz allem, was bereits geschah und bekannt war, trotz aller Warnungen.

Was getan werden muss
Der russische Krieg hat auch bei uns zu Konsequenzen geführt, oft noch zu zögerlich und halbherzig, nicht nur in Form von Sanktionen gegen Russland und Waffenlieferungen an die Ukraine; sehr plötzlich steht bei vielen alles Russische auf dem Prüfstand und man schaut erst einmal, wo es einen überhaupt im Leben berührt. Das ist verständlich. Wer es bis zum 24.02.2022 noch nicht sehen wollte, erkannte plötzlich, wofür dieses Russland steht, und fragte sich erschreckt, was er dagegen tun kann. Natürlich gibt es einige Handlungsoptionen wie zu protestieren, der Ukraine Geld und Material zu spenden, humanitäre Hilfe zu leisten usw. usf.; was man auch unternimmt, es bleibt schließlich doch ein Ohnmachtsgefühl zurück und nur die wenigsten haben eine entsprechende Ausbildung, um die Ukraine tatsächlich auf den Kampffeldern unterstützen zu können.

Russland? Das ist der Feind
Im Krieg verschwindet die Mehrdimensionalität aus dem Leben, alles wird sehr einfach, binär: Russland als Aggressor ist der Feind, es werden keine Unterschiede mehr gemacht. Russland ist heute nicht mehr als ein Synonym für Putin, für Lügen und abscheuliche Propaganda, für Kriegsverbrechen und Völkermord, für Bombenangriffe auf Holocaust-Denkmäler, Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten und Theater, für Zerstörungen, Erschießungen, Vergewaltigungen und Verschleppungen. Es gehört schon ein riesiges Stück Weltflucht dazu, sich heute noch hinzustellen und zu sagen, man hätte ein Faible für Russland und dabei alles auszublenden, wofür dieses gewalttätige Tyrannenreich steht. In dieser Welt müssen wir uns mit dem realen Russland auseinandersetzen, das auch im 21. Jahrhundert meint, seine Nachbarstaaten überfallen zu können, um sie sich einzuverleiben und ihre Bevölkerungen zu unterdrücken.
Das imaginäre, schöne Russland gibt es nur in den Köpfen von Träumern.

Nichts Unschuldiges mehr
Selbstverständlich bedeutet die neue Eindimensionalität, dass es nichts Unschuldiges mehr gibt, das irgendwie mit Russland verbunden ist. Wer könnte sich jetzt noch die Arien einer Putin-Freundin (Netrebko), die Konzerte eines Putin-Freundes (Gergijew) anhören, ohne dabei an Trümmer, Blut und Leichen zu denken? Wer außer Frank-Walter Steinmeier mag gerade jetzt den Werken von Tschaikowsky und Schostakowitsch lauschen, um mit ihnen ein musikalisches Versöhnungsfest zu feiern, während die Waffen nicht ruhen?

Die Sprache von Mördern
Aus der Ukraine hört man zunehmend, dass Leute, deren erste Sprache bisher Russisch war, in das Ukrainische wechseln, weil die russische Sprache nicht von dem zu trennen ist, was Russen gerade in der Ukraine anrichten. Es ist hart, das auszusprechen, aber für diese Menschen ist Russisch nur noch die Sprache von Mördern.
Gerade wir Deutschen kennen diese Vorbehalte und Reaktionen aus unserer Geschichte. Noch im Jahr 2005 drohten Knesset-Abgeordnete, die Rede des damaligen Bundespräsidenten Köhler zu boykottieren, sollte er es wagen, diese auf Deutsch zu halten. Ich habe dafür Verständnis.

Berge des Grauens
Die sogenannte russische Hochkultur ist nur ein dünner Mantel über Bergen des Grauens, eine Repräsentanzschicht, die vielen im Westen schon ausreicht, um ein romantisches Russlandbild zu pflegen. Russland habe so eine großartige Kultur, hört man dann. Man schwärmt von der russischen Seele – was auch immer das sein soll, von den großartigen Menschen, die dieses Land bewohnen: welchen genau? Imaginationen, mehr nicht, aber sie helfen Russland, seine Kolonialpolitik durchzuziehen, weil viele lieber einer Fiktion anhängen als der Wahrheit ins Auge zu sehen.

Hilflose Wut
Gerade zum Anfang des jetzigen russischen Krieges hat mich eine hilflose Wut gepackt; gern hätte ich meine russischen Klassiker zerrissen und im Müll entsorgt, zuerst natürlich “Die Dämonen”, aber das hätte niemandem etwas gebracht, hätte das Morden selbstverständlich nicht beendet. Russische Waren boykottiere ich seit der Krim-Annexion 2014 – die EAN 046x ist für mich tabu und ich bin froh, dass ich in all den Jahren nur einmal dagegen verstoßen musste, als ich unbedingt eine Neonröhre in einem ungewöhnlichen Format brauchte.

Wo die Weltenrätsel träumen
Russische Kultur boykottiere ich aktuell nicht bewusst, aber ich käme überhaupt nicht auf die Idee, jetzt Lieder von Michail Schufutinskij oder Butyrka zu hören; viel lieber höre ich stattdessen Okean Elzy, Meri, Tin Sontsia oder die verrückten Hamerman Znyshchue Virusy, allesamt ukrainische Bands, die auch bei uns ein größeres Publikum verdient hätten.
Allerdings habe ich mich kürzlich an den russischen Dichter Sergej Jessenin erinnert – sein Leben ist ein trauriges Beispiel davon, wie die gewaltige Zentralmacht ein talentiertes Individuum zerstört hat, indem sie seine Schaffensfreiheit einschränkte und schließlich alles im Selbstmord endete:

Zitat:

Wo die Weltenrätsel träumen,
ist des Jenseits ferne Flur.
Welt, in Deinen Erden-Räumen
bin durch Zufall Gast ich nur.

In den stummen Dunkelheiten
aufzufliegen hieß man mich.
Niemand-nichts in Ewigkeiten
hinterließ beim Abschied ich.


Ja, das ist traurig, tragisch, voll bitterer Schönheit – aber notwendig war das alles nicht.

Unablässiges Leiden
Bei Dostojewskij habe ich vor vielen Jahren eine erhellende Stelle im “Tagebuch eines Schriftstellers” gefunden, darin heißt es: “Ich denke, das vornehmliche und grundlegendste spirituelle Bedürfnis der Russen ist das Bedürfnis zu leiden, unablässig und unerschütterlich zu leiden, überall und an allem”. Ich kann nicht beurteilen, ob das damals, als Dostojewskij diesen Satz schrieb, zutraf und ob es heute zutrifft – und wenn ja, in welchem Ausmaß. Alles, was ich mir wünsche, ist, wenn die Russen tatsächlich so ein Bedürfnis zu leiden haben, dann sollen sie es bitte bei sich behalten und nicht immer das Ausland mit hineinziehen. Die Ukrainer haben ein Leben in Frieden und Freiheit verdient, sie sehnen sich nach nichts weniger als der russischen Tyrannei.

Lang lebe die freie Ukraine!

Veröffentlicht am 30.03.2022

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