Russland führt seit dem 24.02.2022 einen Krieg gegen die Ukraine, den es
eigentlich schon seit 8 Jahren führt, den es seit Jahrhunderten führt.
Dieser Krieg ist so offensichtlich und so schrecklich, dass er selbst in
Deutschland nicht ignoriert werden kann, obwohl hier viele Politiker
jahrelang mit Putin kuschelten und ihm direkt oder indirekt halfen, diese
Aggression vorzubereiten. In diesen Skandal – und ein Skandal ist es auf
jeden Fall – verstrickte Leute wie Manuela Schwesig oder Michael Kretschmer
reden sich nun damit heraus, dass sie von Putin getäuscht worden seien. Das
wurden sie nicht; sie haben absichtlich weggeschaut, weil es ihnen genützt
hat, mit Russland Geschäfte zu machen – trotz allem, was bereits geschah
und bekannt war, trotz aller Warnungen.
Was getan werden muss
Der russische Krieg hat auch bei uns zu Konsequenzen geführt, oft noch zu
zögerlich und halbherzig, nicht nur in Form von Sanktionen gegen Russland
und Waffenlieferungen an die Ukraine; sehr plötzlich steht bei vielen alles
Russische auf dem Prüfstand und man schaut erst einmal, wo es einen
überhaupt im Leben berührt. Das ist verständlich. Wer es bis zum 24.02.2022
noch nicht sehen wollte, erkannte plötzlich, wofür dieses Russland steht,
und fragte sich erschreckt, was er dagegen tun kann. Natürlich gibt es
einige Handlungsoptionen wie zu protestieren, der Ukraine Geld und Material
zu spenden, humanitäre Hilfe zu leisten usw. usf.; was man auch unternimmt,
es bleibt schließlich doch ein Ohnmachtsgefühl zurück und nur die wenigsten
haben eine entsprechende Ausbildung, um die Ukraine tatsächlich auf den
Kampffeldern unterstützen zu können.
Russland? Das ist der Feind
Im Krieg verschwindet die Mehrdimensionalität aus dem Leben, alles wird
sehr einfach, binär: Russland als Aggressor ist der Feind, es werden keine
Unterschiede mehr gemacht. Russland ist heute nicht mehr als ein Synonym
für Putin, für Lügen und abscheuliche Propaganda, für Kriegsverbrechen und
Völkermord, für Bombenangriffe auf Holocaust-Denkmäler, Krankenhäuser,
Schulen, Kindergärten und Theater, für Zerstörungen, Erschießungen,
Vergewaltigungen und Verschleppungen. Es gehört schon ein riesiges Stück
Weltflucht dazu, sich heute noch hinzustellen und zu sagen, man hätte ein
Faible für Russland und dabei alles auszublenden, wofür dieses gewalttätige
Tyrannenreich steht. In dieser Welt müssen wir uns mit dem realen Russland
auseinandersetzen, das auch im 21. Jahrhundert meint, seine Nachbarstaaten
überfallen zu können, um sie sich einzuverleiben und ihre Bevölkerungen zu
unterdrücken.
Das imaginäre, schöne Russland gibt es nur in den Köpfen von Träumern.
Nichts Unschuldiges mehr
Selbstverständlich bedeutet die neue Eindimensionalität, dass es nichts
Unschuldiges mehr gibt, das irgendwie mit Russland verbunden ist. Wer
könnte sich jetzt noch die Arien einer Putin-Freundin (Netrebko), die
Konzerte eines Putin-Freundes (Gergijew) anhören, ohne dabei an Trümmer,
Blut und Leichen zu denken? Wer außer Frank-Walter Steinmeier mag gerade
jetzt den Werken von Tschaikowsky und Schostakowitsch lauschen, um mit
ihnen ein musikalisches Versöhnungsfest zu feiern, während die Waffen nicht
ruhen?
Die Sprache von Mördern
Aus der Ukraine hört man zunehmend, dass Leute, deren erste Sprache bisher
Russisch war, in das Ukrainische wechseln, weil die russische Sprache nicht
von dem zu trennen ist, was Russen gerade in der Ukraine anrichten. Es ist
hart, das auszusprechen, aber für diese Menschen ist Russisch nur noch die
Sprache von Mördern.
Gerade wir Deutschen kennen diese Vorbehalte und Reaktionen aus unserer
Geschichte. Noch im Jahr 2005 drohten Knesset-Abgeordnete, die Rede des
damaligen Bundespräsidenten Köhler zu boykottieren, sollte er es wagen,
diese auf Deutsch zu halten. Ich habe dafür Verständnis.
Berge des Grauens
Die sogenannte russische Hochkultur ist nur ein dünner Mantel über Bergen
des Grauens, eine Repräsentanzschicht, die vielen im Westen schon
ausreicht, um ein romantisches Russlandbild zu pflegen. Russland habe so
eine großartige Kultur, hört man dann. Man schwärmt von der russischen
Seele – was auch immer das sein soll, von den großartigen Menschen, die
dieses Land bewohnen: welchen genau? Imaginationen, mehr nicht, aber sie
helfen Russland, seine Kolonialpolitik durchzuziehen, weil viele lieber
einer Fiktion anhängen als der Wahrheit ins Auge zu sehen.
Hilflose Wut
Gerade zum Anfang des jetzigen russischen Krieges hat mich eine hilflose
Wut gepackt; gern hätte ich meine russischen Klassiker zerrissen und im
Müll entsorgt, zuerst natürlich “Die Dämonen”, aber das hätte niemandem
etwas gebracht, hätte das Morden selbstverständlich nicht beendet.
Russische Waren boykottiere ich seit der Krim-Annexion 2014 – die EAN 046x
ist für mich tabu und ich bin froh, dass ich in all den Jahren nur einmal
dagegen verstoßen musste, als ich unbedingt eine Neonröhre in einem
ungewöhnlichen Format brauchte.
Wo die Weltenrätsel träumen
Russische Kultur boykottiere ich aktuell nicht bewusst, aber ich käme
überhaupt nicht auf die Idee, jetzt Lieder von Michail Schufutinskij oder
Butyrka zu hören; viel lieber höre ich stattdessen Okean Elzy, Meri, Tin
Sontsia oder die verrückten Hamerman Znyshchue Virusy, allesamt ukrainische
Bands, die auch bei uns ein größeres Publikum verdient hätten.
Allerdings habe ich mich kürzlich an den russischen Dichter Sergej Jessenin
erinnert – sein Leben ist ein trauriges Beispiel davon, wie die gewaltige
Zentralmacht ein talentiertes Individuum zerstört hat, indem sie seine
Schaffensfreiheit einschränkte und schließlich alles im Selbstmord endete:
Zitat: Wo die Weltenrätsel träumen,
ist des Jenseits ferne Flur.
Welt, in Deinen Erden-Räumen
bin durch Zufall Gast ich nur.
…
In den stummen Dunkelheiten
aufzufliegen hieß man mich.
Niemand-nichts in Ewigkeiten
hinterließ beim Abschied ich.
Ja, das ist traurig, tragisch, voll bitterer Schönheit – aber notwendig war
das alles nicht.
Unablässiges Leiden
Bei Dostojewskij habe ich vor vielen Jahren eine erhellende Stelle im
“Tagebuch eines Schriftstellers” gefunden, darin heißt es: “Ich denke, das vornehmliche und grundlegendste spirituelle Bedürfnis der
Russen ist das Bedürfnis zu leiden, unablässig und unerschütterlich zu
leiden, überall und an allem”. Ich kann nicht beurteilen, ob das damals, als Dostojewskij diesen Satz
schrieb, zutraf und ob es heute zutrifft – und wenn ja, in welchem Ausmaß.
Alles, was ich mir wünsche, ist, wenn die Russen tatsächlich so ein
Bedürfnis zu leiden haben, dann sollen sie es bitte bei sich behalten und
nicht immer das Ausland mit hineinziehen. Die Ukrainer haben ein Leben in
Frieden und Freiheit verdient, sie sehnen sich nach nichts weniger als der
russischen Tyrannei.
Lang lebe die freie Ukraine!