«Das Urteil» ist einer der wenigen Texte Franz Kafkas, die bereits zu
seinen Lebzeiten veröffentlicht worden sind. Die kurze Erzählung entstand
in einem Schreibrausch in nur einer einzigen späten Septembernacht des
Jahres 1912 und ist Felice Bauer gewidmet. Viel ist bereits über diese
Erzählung geschrieben worden, sogar unheimlich viel, aber jeder Leser hat
ein Recht darauf, sich über sie zu äußern und so will auch ich einmal
versuchen, meine spärlichen Gedanken zu diesem Text zu sammeln.
Interpretieren möchte ich ihn nicht, denn wie kann ich ihn interpretieren,
wenn sich sein Autor selbst keinen Reim darauf machen konnte, schließlich
fragte er Felice Bauer in einem Brief vom 2. Juni 1913: «Findest Du im ‚Urteil‘ irgendeinen Sinn … Ich finde ihn nicht und kann
auch nichts darin erklären.» – und das, obwohl es tatsächlich Tagebuchaufzeichnungen wie die vom 11.
Februar 1913 gibt, in der sich Kafka eben um eine Erklärung seiner
Geschichte bemüht, wenn er schreibt, dass sie «wie eine regelrechte Geburt mit Schmutz und Schleim bedeckt» aus ihm herausgekommen sei und nur er selbst die Hand habe, «die bis zum Körper dringen kann und Lust dazu hat». Er beleuchtet seine Figuren, die Beziehungen, in denen sie zueinander
stehen, und insbesondere auch deren Namen, denen er eine größere Bedeutung
beimisst als dies gelegentliche Leser des Textes tun dürften.
Nichts ist wahr – und dem Schriftsteller alles erlaubt?
Texte neben dem Haupttext und autobiographische Bezüge hin oder her, ich
mache es mir einfach und behaupte gleich eingangs, dass in «Das Urteil» als
fiktivem Text nichts wahr ist. Seiner Struktur nach ist er aus vier Teilen
aufgebaut. Er beginnt 1) über zwei Absätze mit einem schwungvollen und
präzis gearbeiteten Exposé, das uns Georg Bendemann, einen jungen Kaufmann,
in seinem Privatzimmer zeigt, wie er gerade einen Brief an seinen
Jugendfreund beendet, der nach Petersburg ausgewandert ist, um dort
geschäftlich tätig zu werden. Das Briefeschreiben ist also eigentlich eine
abgeschlossene Sache, aber nun verwendet Kafka 2) ziemlich großen Aufwand
darauf, uns die Grübeleien von Georg vorzuführen, die ihn beim Schreiben
begleitet haben. Noch lange sitzt Georg mit dem fertigen Brief vor seinem
Fenster. Er ist von der Tat in Nachdenken und Zögern übergegangen. Dann
verlässt Georg 3a) sein Privatzimmer über einen kleinen Gang, worauf er in das Zimmer seines Vaters, in dem er schon seit Monaten nicht gewesen war, kommt. Nach ein paar Sätzen über die Dunkelheit im Zimmer und die
stickige Luft, die sich darin befindet, berichtet Georg seinem Vater über
den Brief, der dem Petersburger Freund seine Verlobung anzeigen soll. Georg
ist zu diesem Zeitpunkt noch immer Herr der Lage, ein Mann, der sein
eigenes Leben lenkt, aber der Vater meldet Zweifel am Wahrheitsgehalt der
Aussagen seines Sohnes an: Gibt es diesen Petersburger Freund denn
wirklich? Der Vater, der sich an ihn nicht erinnern kann (oder will?),
erscheint als senil und schwach. Georg gelingt es, ihn auszuziehen und ins
Bett zu bringen, aber dann kommt es 3b) zu einer plötzlichen Verwandlung.
Wir haben es noch mit den gleichen Personen zu tun, aber ihr Verhalten
weicht krass von den vorherigen Schilderungen ab. Der Vater ist jetzt
unheimlich kräftig und bestimmt, er hält einen wütenden Monolog, der alles
ganz anders darstellt:
Zitat: Du wolltest mich zudecken, das weiß ich, mein Früchtchen, aber zugedeckt bin ich noch nicht. Und ist es auch die letzte Kraft, genug für dich, zuviel für dich. Wohl kenne ich deinen Freund. Er wäre ein Sohn nach meinem Herzen. Darum hast du ihn auch betrogen die ganzen Jahre lang. Warum sonst? Glaubst du, ich habe nicht um ihn geweint? Darum doch sperrst du dich in dein Bureau, niemand soll stören, der Chef ist beschäftigt – nur damit du deine falschen Briefchen nach Rußland schreiben kannst. Aber den Vater muß glücklicherweise niemand lehren, den Sohn zu durchschauen. Wie du jetzt geglaubt hast, du hättest ihn untergekriegt, so untergekriegt, daß du dich mit deinem Hintern auf ihn setzen kannst und er rührt sich nicht, da hat sich mein Herr Sohn zum Heiraten entschlossen!
Eben war der Vater noch der schwache Alte ohne Gedächtnis, jetzt soll er
also wieder der Herr im Haus sein, der seinem Sohn die Verlobung schlecht
redet und für sich beansprucht, alles richtig und wahrhaftig zu deuten. Die
Wortwechsel zwischen Vater und Sohn steigern sich, der erneut herrschende
Vater ruft aus:
Zitat: Häng dich nur in deine Braut ein und komm mir entgegen! Ich fege sie dir von der Seite weg, du weißt nicht wie!
Vor dem Leser tut sich ein auswegloser Strudel der Verwirrung auf. Was ist
nun wahr, was ist falsch? Ist Teil 3a) die Welt als Georgs Vorstellung und
Teil 3b) die Welt als Vorstellung des Vaters, wie sie Georg wahrnimmt? Ich
bleibe bei meiner Eingangsfestellung: Nichts in diesem Text ist wahr und es
macht keinen Sinn, sich den Kopf darüber so zu zergrübeln wie Gregor über
seinen Brief an den Petersburger Freund – ob dieser Freund nun existiert
oder nicht. Auffallend ist, dass hier nichts passt. Als Leser sind wir
Zeuge eines eskalierenden Gesprächs, das seine beiden Teilnehmer nicht
miteinander, sondern gegeneinander führen: Vater und Sohn haben zwar eine
gemeinsame Geschichte, aber sie sind sich offenbar absolut fremd, ihre
Positionen sind und bleiben unvereinbar, mehr noch: das Gespräch ist
eigentlich ein Kampf um Anerkennung, um die eigene Identität – und zwar auf
Leben oder Tod. Dabei erscheint das Ganze überaus unwirklich: Als lebten
beide Figuren in unterschiedlichen, sich gegenseitig ausschließenden
Welten, die nur durch die Erzählung zu einer einzigen zusammengeführt
werden.
Das Urteil als schnellster Weg aus dem Text
Wie löst Kafka die Aporie, in die er uns geführt hat, auf? Er greift zu
einem drastischen Mittel, das ihm einen bequem zu schreibenden kurzen
Schluss ermöglicht.
Die letzten, schon laut geäußerten Sätze des Vaters sind nämlich:
Zitat: Jetzt weißt du also, was es noch außer dir gab, bisher wußtest du nur von dir! Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch! – Und darum wisse: Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!
Der Tod durch Ertrinken ist also das Urteil, nach dem die Erzählung benannt
ist; man kann es leicht überlesen, aber dieses Todesurteil ist offenbar
zugleich das Todesurteil für den Vater («den Schlag, mit dem der Vater hinter ihm aufs Bett stürzte, trug er noch
in den Ohren davon»). Der Sohn nimmt 4) dieses Urteil an, ohne nachzudenken, kaum dass es der
Vater ausgesprochen hat, er setzt es geschwind um und Kafka braucht nur
einen Absatz, um die Handlung dem Leser zu zeigen: Georg lässt sich von
einer Brücke fallen, an deren Geländer er sich für einige Augenblicke noch
festhalten kann. Zuletzt sieht er einen Omnibus, von dem er annimmt, dass
er seinen Fall wohl übertönen und damit niemand von ihm Notiz nehmen und
sein Vorhaben vereiteln würde. Georgs letzter Ausruf zeigt uns noch einmal
die ganze Widersprüchlichkeit seines Lebens: «Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt». Dann, nach dem Fall ins Wasser, heißt es im abschließenden Satz der
Erzählung lapidar:
Zitat: In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.
Sehen wir davon ab, dass in einem Augenblick nichts Unendliches geschehen kann, so bleibt die Gewissheit, dass der Verkehr weiterströmen wird, auch wenn Georg bereits ertrunken ist. Die moderne Welt, in der jeder Einzelne verzichtbar ist und von einer fahrenden Maschine im Moment seiner größten Not übertönt werden kann, dreht sich auch nach Georg Bendemanns Tod weiter. Scheinbar ist sie jetzt sogar ein ganzes Stück lebendiger geworden.