Kafka ist der weltweit meistgelesene deutschsprachige Dichter in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – und auch im 21. Jahrhundert ist er
eine in seinem Werk fortdauernde literarische Größe, an der man als
Liebhaber geistiger Höhen nicht vorbeikommt, selbst wenn das auf ihn
bezogene Wort «kafkaesk» seit einer Spitze in den 1990er Jahren immer
seltener in deutschen Tageszeitungen auftaucht und ein gewisses Nachlassen
des Interesses andeuten mag. Nächstes Jahr jedoch, 2024, werden wir den
100. Todestag von Franz Kafka begehen; da wird man ihn ziemlich sicher noch
einmal aufleben lassen wie lange nicht mehr, und sei es nur für das
Geschäft …
Kann man über Kafka etwas sagen, was nicht zuvor in einem bzw. einer von
tausenden Artikeln und Studien gesagt worden ist? Wahrscheinlich schon,
aber ich habe weder einen Überblick über alles bisher Geschriebene noch den
Anspruch, nachfolgend etwas grundlegend Neues zu äußern, und so wird es
hier bei ein paar privaten Worten über Kafka und sein Oeuvre bleiben –
hoffentlich ohne dabei zu langweilen.
Wiederbegegnung mit Kafka
Die Werke von Franz Kafka habe ich recht früh in meinem Leben gelesen, ich
war von ihnen absolut begeistert. Kafkas Texte waren wie ein Schlüsselloch,
durch das ich in eine fremdartig-bekannte Welt wieder zu mir selbst
kriechen konnte; als meinen Spruch für das Abiturbuch wählte ich einen von
Kafkas Aphorismen. Nach einer Phase der extensiven Lektüre seiner Werke
habe ich mich allerdings mehr als zwanzig Jahre gar nicht mehr mit Kafka
beschäftigt. Er war für mich wie viele andere Autoren ein inzwischen
ausgelesener und ist mir nur ziemlich zufällig wieder aktuell geworden:
Denn neulich stand ich auf der Suche nach Cernys Piss-Skulptur plötzlich im
Innenhof des Kafka-Museums in Prag. Das Museum selbst habe ich bei dieser
Gelegenheit nicht besucht, denn das oberflächliche
touristisch-sensationelle Treiben um solche Einrichtungen macht mich immer
skeptisch, aber ich werde den Besuch sicherlich irgendwann einmal
nachholen.
Eine furchtbare Welt
Diese zufällige Konfrontation mit Franz Kafka muss etwas in mir ausgelöst
haben. Obwohl mir das Wirken der Germanisten bisher immer ein wenig aussah
wie das der Maden, die sich durch wehrlose Leichen fressen, ohne selbst
etwas eigenständiges zu erschaffen, habe ich mittlerweile die
verschiedensten Schriften über Kafka gelesen und nebenbei damit angefangen,
seine eigenen Texte erneut zu lesen. Dabei bin ich auch auf den 1948
publizierten Essay von Hannah Arendt gestoßen, in dem sie das Werk Kafkas
historisch einordnet und mit der Realität der Gaskammern in Beziehung setzt. Eine solche Deutung schien damals kurz nach dem
Holocaust naheliegend, und sie wurde über die weiteren Jahre fast ein
Allgemeinplatz.
Zitat: Kafkas Welt ist zweifellos eine furchtbare Welt. Daß sie mehr als ein Albtraum ist, daß sie vielmehr strukturell der Wirklichkeit, die wir zu erleben gezwungen wurden, unheimlich adäquat ist, wissen wir heute vermutlich besser als vor zwanzig Jahren. Das Großartige dieser Kunst liegt darin beschlossen, daß sie heute noch so erschütternd wirken kann wie damals, daß der Schrecken der Strafkolonie durch die Realität der Gaskammern nichts an Unmittelbarkeit eingebüßt hat.
Ich stimme der Philosophin zu: Kafkas Welt ist eine furchtbare Welt, man
denke bloß an den Text «In der Strafkolonie» (1914), in dem eine von Menschen gesteuerte Maschine Menschen grausam
tötet, in dem das Töten von Menschen ein emotionsloser und rationaler
Prozess ist. Es ist aber auch richtig, einzuwenden: Kafka war kein
Hellseher im Sinne davon, dass er die Zukunft vorweggenommen hätte, aber er
hat in seiner eigenen Zeit hell, d.h. sehr klar gesehen und damit erkannt, welche Entwicklungen und
Mechanismen in ihr bereits wirksam waren.
Sein Brotberuf, die Arbeit in der Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag, ermöglichte Kafka, vielfältige gesellschaftliche Probleme und menschliche
Schicksale sowie die Arbeit von bürokratisch geführten Institutionen
kennenzulernen. Ohne diesen missliebigen Beruf würden wir heute
wahrscheinlich von einem Franz Kafka nichts mehr wissen, da viele seiner
Stoffe und Einsichten eben aus seinem Berufsleben stammen; und von daher
ist es auch irreführend, wenn man sagt: “Franz Kafka war ein Schriftsteller” – und dem nichts weiter hinzufügt. Kafka war neben vielem anderen auch
Doktor der Rechte und beruflich so erfolgreich, dass er über verschiedene
Karrierestufen hinweg schließlich Obersekretär der Versicherungsanstalt
war, für die er viele Jahre arbeitete. Irgendwo habe ich gelesen, dass
diese Position mit einem heutigen CEO durchaus vergleichbar sei.
Kein Weg aus der Ausweglosigkeit
Das Schicksal von Kafkas Helden, und das stellt einen Aspekt dar, den ich
heute entschieden kritischer bewerte als mein früheres Selbst, ist oft
skandalös. In vielen Texten wird die Ausweglosigkeit, in die sie ihr Autor
gestellt hat, bereits im ersten Satz klar, wie in «Die Verwandlung» (1912)
oder «Der Prozeß» (1915), in anderen, wie «Ein Landarzt» (1917) oder «Das
Schloß» (1922) wird dem Leser das konfliktbeladene Szenario eröffnet, in
dessen strengen Grenzen sich alles folgende abspielen wird. Diese Texte
beginnen wie Schachpartien, in denen sich ein einsamer schwarzer König
einer weißen Restmannschaft gegenübergestellt sieht, die nur wenige Züge
brauchen wird, um ihn matt zu setzen.
Zur besseren Übersicht habe ich die Anfänge der soeben erwähnten Texte
zitiert:
Die Verwandlung
Zitat: Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.
Ein Landarzt
Zitat: Ich war in großer Verlegenheit: eine dringende Reise stand mir bevor; ein Schwerkranker wartete auf mich in einem zehn Meilen entfernten Dorfe; starkes Schneegestöber füllte den weiten Raum zwischen mir und ihm (...)
Der Prozess
Zitat: Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.
Das Schloß
Zitat: Es war spätabends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schloßberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an.
Serielles Scheitern
Warum nenne ich das Schicksal von Kafkas Helden skandalös? Die Helden sind
zwar bemüht, das Beste aus ihrer Situation zu machen und diese zu
überwinden, aber dass sie an den Umständen, die sie umgeben, nur scheitern
werden, ist immer eine schon ausgemachte Sache. Gegen die Macht des
Faktischen, gegen eine manchmal uninteressierte, häufiger abweisende bis
ihnen feindlich gesinnte Umwelt haben sie keine Chance. Niemand hilft
ihnen, sich zu befreien, sie sind ganz auf sich allein gestellt, bis sie am
Ende meist nur umkommen. Sie leben und sterben in einer Welt ohne Gnade.
Vielleicht ist das zu provokativ gefragt, aber macht die
Entwicklungsrichtung der Texte Kafka-Leser nicht mindestens ein wenig zu
Masochisten?
Wo ist die Hoffnung?
Nun hat insbesondere die jüngere Geschichte der Menschheit Kafkas
Pessimismus Recht gegeben, wie es oben durch das Arendt-Zitat bereits
angedeutet wurde: Mir mag das Schicksal von Kafkas tragischen Helden nicht
gefallen, aber angesichts der kaum zu zählenden Verbrechen der
Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, angefangen mit dem russischen
Bolschewismus, muss ich mir doch eingestehen, dass die oft absurd
erscheinenden Texte von Kafka auch einen großen Realismus, und wenn man es
denn unbedingt so sehen will, eine ebensolche Prophetie bezeugen. Trotzdem
frage ich mich: Wenn die Welt bzw. das Leben eines Menschen so ist wie bei
Kafka dargestellt, wie kann man ohne Hoffnung auf Erlösung oder immerhin
Besserung leben? Wann, wie und wo kann sich das Leben, wie es sein sollte,
mit dem, wie es ist, vielleicht versöhnen? Was muss jeder Einzelne tun,
damit das Leben besser wird?
Natürlich ist ein Schriftsteller nicht verpflichtet, in seinen Texten
Antworten auf diese Fragen zu geben; aber es wäre traurig, wenn Kafkas
Leser bei der düsteren Perspektivlosigkeit der Texte stehen blieben und
sich bei oder nach der Lektüre nicht selbst auf den Weg machen würden, um
diese existentiell wichtigen Antworten zu finden.
Niemand hat uns gefragt, ob wir geboren werden wollen, aber in unserem
bewussten Leben haben wir – Unfälle und andere Extremsituationen einmal
ausgenommen – immer eine Wahl, auch wenn sie manchmal nur aus zwei
schlechten Optionen besteht.
Leid zu Literatur gemacht
Was mag Kafka neben seinen Berufserfahrungen bewegt haben, derartige
Geschichten zu verfassen? «Das Urteil» von 1912 galt Kafka selbst als großer Durchbruch in seinem Schaffen. In
dieser Erzählung schildert er einen Vater-Sohn-Konflikt, und es ist kein
spekulativer Höhenflug, die autobiographischen Bezüge zu erkennen, denn
Kafka hatte bekannterweise ein überaus konfliktvolles Verhältnis zu seinem
Vater. Stellen wir uns vor, wie Kafka die Erzählung in nur einer einzigen
Nacht, wie auf einem Fluss vorwärts gleitend, geschrieben hat. Aus dem
Nichts bzw. auf das stumme Weiß seines Papiers zaubert er auf seiner
kreativen Fahrt in einem Schreibrausch eine eigene Schöpfung, deren Herr er
ist. Kafka verwandelt reale Probleme seines Lebens in Literatur, verschiebt
sie also in eine Sphäre, in welcher er (eigentlich) allmächtig und nur den
Gesetzen der Literatur, wie er sie versteht und akzeptiert, unterworfen
ist. Dort, in dieser Sphäre, kann er mit seinen Figuren gefahrlos spielen,
sie dieses und jenes machen lassen, ohne dass er dafür auf weltliche Weise
bezahlen muss – und doch fällt es ihm nicht ein, die Figuren aus den ihnen
immanenten Zwängen zu befreien. Die Fiktion bleibt interessanterweise nicht
nur genauso trostlos wie die Realität, oft übertrifft sie diese an
Abgründigkeit und Abscheulichkeit – warum zum Beispiel endet «Das Urteil»
mit dem vom Vater ausgesprochenen Todesurteil, das der Sohn widerspruchslos
und sofort wie ein gedanken- und gefühlloser Automat ausführt? Was soll das
gehorsame Davonlaufen, diese Ekstase der Selbstvernichtung?
Franz Kafka reproduziert sein persönliches Elend nicht nur literarisch, er über-produziert es. Die bohrende Frage bleibt: Wozu? – weil mitgeteiltes Leid
nur halbes Leid ist, oder weil Kafka das Leiden vielleicht auf eine etwas
seltsam Weise sogar genossen hat?
Zum Rückschritt fortschreiten
Durchläuft ein Held einmal einen Prozess, macht er also einen Fortschritt,
wie wir ihn am Anfang von «Das Urteil» beobachten dürfen, in dem der Sohn als vom Vater emanzipiert dargestellt
wird, so folgt sogleich der Regress, der Rückschritt, denn der Fortschritt
war nur eine unwirkliche, gar teuflische Einbildung. Was Kafka entstehen
lässt, möchte er alsbald wieder vernichten oder zumindest dem geradlinigen
Verständnis entziehen, da ist er rigoros und unnachgiebig. Bildlich kann
man sich Kafkas Verfahren wie folgt vorstellen: Für den Leser mag es immer
wieder punktuell so aussehen, als hätte Kafka vor, eine Raute zu malen, er
beginnt links mit einem Punkt, zieht dann die Flügel oben und unten bis zu
ihrem Scheitel auf, aber dann führt er sie nicht, wie man erwarten würde,
zu einem Punkt auf der rechten Seite zusammen, sondern lenkt sie nach links
auf einen Punkt zurück, der noch vor dem Ausgangspunkt liegt – auf einem
anderen Stück Papier!
Eine unverzerrte, gesunde Entwicklung ist bei Kafkas Figuren nicht möglich, sie sind Deformierte ohne
Aussicht auf Heilung. Sie verfangen sich in Verwirrungen und Widersprüchen,
laufen in Zirkeln. Beispielhaft für Kafkas Gedankenwelt ist dieser Zürauer
Aphorismus, wenn man denn die am Ende als Möglichkeit angedeutete Gnade
abzieht:
Zitat: Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch zu sterben. Dieses Leben scheint unerträglich, ein anderes unerreichbar. Man schämt sich nicht mehr, sterben zu wollen; man bittet, aus der alten Zelle, die man haßt, in eine neue gebracht zu werden, die man erst hassen lernen wird. Ein Rest von Glauben wirkt dabei mit, während des Transportes werde zufällig der Herr durch den Gang kommen, den Gefangenen ansehn und sagen: ‚Diesen sollt Ihr nicht wieder einsperren. Er kommt zu mir.‘
– oder eine Stelle von zentraler Wichtigkeit aus «Das Schloß», die eine
ziellose Zirkularität beschreibt, wie sie in einem Hamsterrad herrscht,
obwohl es tatsächlich um eine Treppe geht:
Zitat: Solange du nicht zu steigen aufhörst, hören die Stufen nicht auf, unter deinen steigenden Füßen wachsen sie aufwärts
Der fehlende Schlüssel
Kafka ist ein Enigma, in das man immer tiefer eintauchen kann, ohne es je
ganz zu ergründen. Inzwischen hat man wohl alles, was man an Schriftstücken
aus Kafkas Hand finden konnte, publiziert: Seine Tagebücher, seine Briefe,
sogar vor den amtlichen Schriften, die in seinem Brotberuf entstanden, hat
man nicht Halt gemacht, denn selbst diese könnten ja irgendwie Aufschluss
über Kafka geben; der Fischer-Verlag preist letztere folgerichtig und
geschäftstüchtig als «unverzichtbare Grundlage für die Erschließung» des
dichterischen Werks an.
Mittlerweile gibt es auch Theorien über eine mögliche Homosexualität
Kafkas, wie sie einem beispielsweise in Saul Friedländers Kafka-Monographie
von 2012 nahegelegt wird. Vieles darin hört sich plausibel an, erschwert
wird die «Diagnose» allerdings dadurch, dass Kafkas erster
Nachlassverwalter Max Brod möglicherweise entscheidende Schriftstücke hat verschwinden lassen, unter
anderem die Korrespondenz mit Kafkas engem Jugendfreund Oskar Pollak.
Trotz etlicher Indizien wird man die Theorie nicht beweisen können, ich
habe mich dennoch früher schon gefragt: Was wäre eigentlich, wenn der so
hübsche wie schwierige Franz einfach nur schwul gewesen ist? Das würde doch
schlagartig alles erklären, seine Schwierigkeiten mit dem Vater, seine
Einstellung zum weiblichen Körper, warum er Junggeselle geblieben ist, sein
Außenseitertum, seine Hoffnungslosigkeit, seine Weltflucht.
Wie auch immer, und auf die Gefahr hin, dass es sich bauerig anhören wird:
Da Kafka seine irdischen Probleme nicht lösen konnte, hat er sich in die
Literatur geflüchtet, die Probleme dorthin mitgenommen und umgestaltet, um
schließlich zu erkennen, dass dieses Substitut auf Dauer eine
unbefriedigende Chimäre ist, dass Sprache keine Welt ersetzen, sondern
diese nur als unwirklichen Schein duplizieren kann und einen zwangsläufig
enttäuschen muss. Was also hat Kafka das ganze Schreiben genützt?
Ein kleines, unsicheres Gerippe
Aber noch einmal zurück: Ist die folgende Stelle aus dem «Brief an den Vater» (1919), die auch Friedländer anführt, nicht exemplarisch für eine bestimmte
Art von Homosexuellen, die feinsinnig aber körperlich schwach sind und
schon früh erkennen müssen, dass sie den Anforderungen, die der
heterosexuelle Vater an sie stellt, nicht gerecht werden können, und die
sich schämen, zeitlebens anders zu sein?
Zitat: Ich war ja schon niedergedrückt durch Deine bloße Körperlichkeit. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, wie wir uns öfters zusammen in einer Kabine auszogen. Ich mager, schwach, schmal, Du stark, groß, breit. Schon in der Kabine kam ich mir jämmerlich vor, und zwar nicht nur vor Dir, sondern vor der ganzen Welt, denn Du warst für mich das Maß aller Dinge. Traten wir dann aber aus der Kabine vor die Leute hinaus, ich an Deiner Hand, ein kleines Gerippe, unsicher, bloßfüßig auf den Planken, in Angst vor dem Wasser, unfähig Deine Schwimmbewegungen nachzumachen, die Du mir in guter Absicht, aber tatsächlich zu meiner tiefen Beschämung immerfort vormachtest, dann war ich sehr verzweifelt und alle meine schlimmen Erfahrungen auf allen Gebieten stimmten in solchen Augenblicken großartig zusammen. Am wohlsten war mir noch, wenn Du Dich manchmal zuerst auszogst und ich allein in der Kabine bleiben und die Schande des öffentlichen Auftretens so lange hinauszögern konnte, bis Du endlich nachschauen kamst und mich aus der Kabine triebst. Dankbar war ich Dir dafür, daß Du meine Not nicht zu bemerken schienest, auch war ich stolz auf den Körper meines Vaters. Übrigens besteht zwischen uns dieser Unterschied heute noch ähnlich.
Kein Heiliger
Franz Kafka war trotz der Reinheit seiner Prinzipien, der Raffiniertheit
seiner Kompositionen, seiner außerordentlichen Belesenheit und Intelligenz
sowie der aufrichtigen Treue zu seiner eigenen Wahrheit kein Heiliger, als
welchen ihn sein Freund Max Brod posthum darstellte. Kafka hat sein
persönliches Leiden in seiner Literatur auf eine allgemeinere Ebene gehoben
und es dadurch mit den Menschen geteilt, die daran optional teilhaben
können. Dabei hat Kafka sein Leiden derart interpretationsoffen
verarbeitet, dass sich die unterschiedlichsten Menschen damit beschäftigen,
manchmal sogar darin wiedererkennen können. Das Kreuz, um vielleicht doch
noch einen Bogen Richtung Religion zu machen, an das “man” Kafka schlug,
war seine tödliche Erkrankung, die ihn früh aus dieser Welt nahm, damit das
Gedenken an ihn und insbesondere seine Werke um so länger, nämlich ewig
leben.
Kafkas einzigartig gestaltete Thematisierungen von Geworfenheit, Allein-
und Ausgeliefertsein, Entfremdung, familiären und gesellschaftlichen
Zwängen, Verfall, der Krankheit zum Tode sind von ungebrochener Aktualität. Auch darin besteht die Größe von Kafkas
literarischem Werk, die ich nach wie vor – trotz gewachsener kritischer
Distanz – durchaus ehrfürchtig anerkenne.