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Die Freiheit unter dem Joch der Macht

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Karl Marx unter dem roten Stern im Kommunismus-Museum in Prag (August 2021)

Wie Opportunismus, Ignoranz und Angst Diktaturen am Leben erhalten

Das Museum des Kommunismus in Prag ist einer jener Orte, an dem man einiges über die Schrecken der jüngeren Geschichte Osteuropas lernen kann. Steile, dunkle Stufen führen von der Kasse im Eingangsbereich in die Ausstellungsräume hinauf, und man sieht lange nicht, was einen erwartet, bis man schließlich von einer ebenfalls dunklen Marx-Skulptur in einem Vorraum begrüßt wird. Drohend senkt sich von oben ein großer roter Stern, als wollte er einen gleich erdrücken, oder zumindest für den Rest des Lebens stempeln …

Nur ein Quader im gigantischen Bauwerk
Warum erzähle ich davon? Ich will gar nicht genauer auf die Ausstellung in Prag eingehen, aber doch ein Exponat erwähnen, das mich noch lange nach meinem Besuch beschäftigt hat. Es handelt sich hierbei um ein Video, das einen Bildhauer im Interview zeigt. Dieser Bildhauer erzählt, wie er selbst einen Quader des größten Stalin-Denkmals der Welt in den 1950er Jahren bearbeitet hat. Was waren seine Gründe, an diesem staatlichen Unternehmen teilzunehmen? Sie waren ganz klassisch: Er war jung, brauchte das Geld und wollte seine Karriere zum Laufen bringen. Inhaltlich hat ihm das Denkmal anscheinend nichts bedeutet, er lacht heute darüber und redet sich aus der Verantwortung, dass er ja nur diesen einen Quader bearbeitet habe, ohne unbedingt das große Ganze, also das gesamte Denkmal zu sehen, das andere sich ausgedacht, geplant und zusammengefügt haben. Außerdem sei das 1955 eingeweihte Bauwerk ja bereits 1962 schon wieder gesprengt worden, alles umsonst und ohne Dauer gewesen. So weit die Nachbetrachtung mit einem Abstand von mehreren Jahrzehnten, unter inzwischen demokratischen Lebensbedingungen.

Die großen Verbrecher und die gewöhnlichen Leute
Ich will nicht kritisieren, dass man in der Vergangenheit einmal falsch gelegen hat, vielleicht auch grob falsch gelegen – das ist gewissermaßen menschlich, aber was mich an diesen Aussagen des Bildhauers tatsächlich gestört hat, ist dieses unlautere Sich-selbst-entschuldigen, weil man ja nur einen kleinen, wenig bedeutsamen Teil geleistet habe … denn so ist es doch in Diktaturen häufig: Klar, es gibt die großen Verbrecher, welche die großen Verbrechen begehen, die jeder kennt, die in die Geschichtsbücher eingehen, aber am Leben werden Diktaturen von den “normalen”, ganz gewöhnlichen Leuten gehalten, die sich weigern, das große Ganze zu sehen und immer zu ihrer Entschuldigung sagen: “Ich habe doch nur dieses oder jenes gemacht” – was für sich isoliert stehend kaum eine Bedeutung hätte, aber niemals isoliert steht und eben deswegen von Bedeutung ist.

Das kurzsichtige Opfern der Zukunft
Es ist eine fatale Haltung. Aus Opportunismus tun solche Menschen, was man von ihnen verlangt. Auf die Privilegien eines angepassten Lebens möchten sie nicht verzichten, die moralischen Konflikte, die einem in einer Diktatur an jeder Ecke begegnen, ignorieren sie. Die Angst regiert sie. So erhalten sie das System am Leben, weil es die Mehrheit genau wie sie macht: Für eine marginal bessere eigene Gegenwart wird die ganze Aussicht auf eine insgesamt bessere Zukunft geopfert. Alle tragen damit einen Teil der Schuld. Das sind Überlegungen, die mir gerade heute relevant erscheinen. Wir wundern uns vielleicht, warum es in Russland offenbar so wenig Widerstand gegen den Putinismus gibt, warum es keine Proteste nach dem Bekanntwerden der russischen Massaker in Butscha und Isjum gab, aber die Russen demonstriert haben, als das Rentenalter im Jahr 2018 erhöht werden sollte oder man den Einwohnern des sibirischen Chabarowsk im Jahr 2020 ihren Gouverneur wegnahm. Natürlich kann man einwenden, dass Proteste gegen den jetzigen Krieg viel schärfer vom Staat verfolgt werden – und dagegen kann ich dann auch nichts sagen, trotzdem sieht es ja ungut für ein Volk aus, wenn es sich nur bemerkbar macht, wenn es sein eigenes Wohlbefinden abnehmen sieht, wie jetzt bei der Massenmobilisierung in Russland, die vom Machtapparat euphemistisch nur “partiell” genannt wird …

Die Überwindung der Angst in der Solidarität
Wenn sich ein Volk von einer Diktatur aus eigener Kraft befreien will, so müssen die Einzelnen aufhören, nur an und nur für sich zu denken. Sie müssen ihre Angst überwinden, sich mit den anderen solidarisieren, bis sie eine kritische Masse erreichen, die es mit dem Staat aufnehmen kann. Das ist von außen alles leicht und abstrakt sagbar, im konkreten ist es sicherlich außerordentlich schwierig, und trotzdem darf man bei dieser Erkenntnis nicht stehen bleiben. Wie sehr einen trainierte und bewaffnete Polizisten einschüchtern können, das kann man manchmal auch in unserer Gesellschaft erfahren, in der keine komplette Staatswillkür herrscht, deswegen werde ich hier keinen großen Moralvortrag halten. Nicht jeder ist zu einem Helden geboren worden, aber wenn es gar keine Helden gibt, wird ein unfreies Land die Freiheit nie erleben. Jedes Volk kann Helden gebären und diese auf seinen Schultern tragen … Es kann sogar ein ganzes Volk zu einem Helden werden, wenn es zusammensteht, sich seiner Kräfte bewusst wird und diese in die Waagschale des Geschichtsverlaufs wirft.

Es kann geschossen werden
Als die DDR unterging, war ich gerade einmal 11 Jahre alt. Die Zeit in diesem Unrechtsregime und sein Untergang haben mich für mein weiteres Leben ohne Frage stark geprägt. Als im Herbst 1989 die erste Demonstration durch meine kleine Heimatstadt ziehen sollte, hätte ich mich als Schüler gern angeschlossen. Endlich passierte auch bei uns etwas, nachdem schon die halbe Republik auf den Straßen war und protestierte! Mein Vater, ein vom Staat jahrelang verfolgter Oppositioneller, hat es mir jedoch untersagt, weil geschossen werden könnte. “Na und?” hatte ich mir damals gedacht. “Was macht das?”. Sicherlich war das ein wenig kindliche Naivität, die von den möglichen Folgen keine genaue Vorstellung hatte, aber ich war von meinem Vater enttäuscht, dass er diese revolutionäre Gelegenheit ausschlug. Wenn nun alle so dächten, würde niemand demonstrieren gehen. Wenn niemand demonstrieren ginge, würde alles immer so weitergehen und die DDR vielleicht heute noch existieren.


Zur Freiheit verurteilt
In “Der Existentialismus ist ein Humanismus” (1946) hat der französische Philosoph Jean-Paul Sartre kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die folgenden folgenschweren Sätze niedergeschrieben:

Zitat:

Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, und dennoch frei, weil er, einmal in die Welt geworfen, für all das verantwortlich ist, was er tut.



Wir müssen uns täglich in allem, was wir tun und unterlassen, der Verantwortung stellen, die wir tatsächlich haben, können uns weder jetzt noch später herausreden. Wir werden die Folgen unseres Handelns oder Nichthandelns nicht immer richtig einschätzen können, sollten aber trotzdem versuchen, die Welt ein wenig besser zu machen, indem wir es selbst wagen, ein besserer Mensch zu sein, auch wenn wir dafür einige Opfer bringen, auf einiges verzichten müssen, was weniger anständige Menschen dann vielleicht in ihre Taschen einstreichen werden – und wir sollten uns nie wie der tschechische Bildhauer aus dem Video im Prager Kommunismus-Museum, der am Stalin-Denkmal gearbeitet hat, auf ein “Ich habe doch nur” berufen. Wir haben immer eine Wahl. Jeder von uns.

Veröffentlicht am 26.09.2022

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