Das Museum des Kommunismus in Prag ist einer jener Orte, an dem man einiges über die Schrecken der
jüngeren Geschichte Osteuropas lernen kann. Steile, dunkle Stufen führen
von der Kasse im Eingangsbereich in die Ausstellungsräume hinauf, und man
sieht lange nicht, was einen erwartet, bis man schließlich von einer
ebenfalls dunklen Marx-Skulptur in einem Vorraum begrüßt wird. Drohend
senkt sich von oben ein großer roter Stern, als wollte er einen gleich
erdrücken, oder zumindest für den Rest des Lebens stempeln …
Nur ein Quader im gigantischen Bauwerk
Warum erzähle ich davon? Ich will gar nicht genauer auf die Ausstellung in
Prag eingehen, aber doch ein Exponat erwähnen, das mich noch lange nach
meinem Besuch beschäftigt hat. Es handelt sich hierbei um ein Video, das
einen Bildhauer im Interview zeigt. Dieser Bildhauer erzählt, wie er selbst
einen Quader des größten Stalin-Denkmals der Welt in den 1950er Jahren
bearbeitet hat. Was waren seine Gründe, an diesem staatlichen Unternehmen
teilzunehmen? Sie waren ganz klassisch: Er war jung, brauchte das Geld und
wollte seine Karriere zum Laufen bringen. Inhaltlich hat ihm das Denkmal
anscheinend nichts bedeutet, er lacht heute darüber und redet sich aus der
Verantwortung, dass er ja nur diesen einen Quader bearbeitet habe, ohne
unbedingt das große Ganze, also das gesamte Denkmal zu sehen, das andere
sich ausgedacht, geplant und zusammengefügt haben. Außerdem sei das 1955
eingeweihte Bauwerk ja bereits 1962 schon wieder gesprengt worden, alles
umsonst und ohne Dauer gewesen. So weit die Nachbetrachtung mit einem
Abstand von mehreren Jahrzehnten, unter inzwischen demokratischen
Lebensbedingungen.
Die großen Verbrecher und die gewöhnlichen Leute
Ich will nicht kritisieren, dass man in der Vergangenheit einmal falsch
gelegen hat, vielleicht auch grob falsch gelegen – das ist gewissermaßen
menschlich, aber was mich an diesen Aussagen des Bildhauers tatsächlich
gestört hat, ist dieses unlautere Sich-selbst-entschuldigen, weil man ja
nur einen kleinen, wenig bedeutsamen Teil geleistet habe … denn so ist es
doch in Diktaturen häufig: Klar, es gibt die großen Verbrecher, welche die
großen Verbrechen begehen, die jeder kennt, die in die Geschichtsbücher
eingehen, aber am Leben werden Diktaturen von den “normalen”, ganz
gewöhnlichen Leuten gehalten, die sich weigern, das große Ganze zu sehen
und immer zu ihrer Entschuldigung sagen: “Ich habe doch nur dieses oder jenes gemacht” – was für sich isoliert stehend kaum eine Bedeutung hätte, aber niemals
isoliert steht und eben deswegen von Bedeutung ist.
Das kurzsichtige Opfern der Zukunft
Es ist eine fatale Haltung. Aus Opportunismus tun solche Menschen, was man
von ihnen verlangt. Auf die Privilegien eines angepassten Lebens möchten
sie nicht verzichten, die moralischen Konflikte, die einem in einer
Diktatur an jeder Ecke begegnen, ignorieren sie. Die Angst regiert sie. So
erhalten sie das System am Leben, weil es die Mehrheit genau wie sie macht:
Für eine marginal bessere eigene Gegenwart wird die ganze Aussicht auf eine
insgesamt bessere Zukunft geopfert. Alle tragen damit einen Teil der
Schuld. Das sind Überlegungen, die mir gerade heute relevant erscheinen.
Wir wundern uns vielleicht, warum es in Russland offenbar so wenig
Widerstand gegen den Putinismus gibt, warum es keine Proteste nach dem
Bekanntwerden der russischen Massaker in Butscha und Isjum gab, aber die
Russen demonstriert haben, als das Rentenalter im Jahr 2018 erhöht werden
sollte oder man den Einwohnern des sibirischen Chabarowsk im Jahr 2020
ihren Gouverneur wegnahm. Natürlich kann man einwenden, dass Proteste gegen
den jetzigen Krieg viel schärfer vom Staat verfolgt werden – und dagegen
kann ich dann auch nichts sagen, trotzdem sieht es ja ungut für ein Volk
aus, wenn es sich nur bemerkbar macht, wenn es sein eigenes Wohlbefinden
abnehmen sieht, wie jetzt bei der Massenmobilisierung in Russland, die vom
Machtapparat euphemistisch nur “partiell” genannt wird …
Die Überwindung der Angst in der Solidarität
Wenn sich ein Volk von einer Diktatur aus eigener Kraft befreien will, so
müssen die Einzelnen aufhören, nur an und nur für sich zu denken. Sie
müssen ihre Angst überwinden, sich mit den anderen solidarisieren, bis sie
eine kritische Masse erreichen, die es mit dem Staat aufnehmen kann. Das
ist von außen alles leicht und abstrakt sagbar, im konkreten ist es
sicherlich außerordentlich schwierig, und trotzdem darf man bei dieser
Erkenntnis nicht stehen bleiben. Wie sehr einen trainierte und bewaffnete
Polizisten einschüchtern können, das kann man manchmal auch in unserer
Gesellschaft erfahren, in der keine komplette Staatswillkür herrscht,
deswegen werde ich hier keinen großen Moralvortrag halten. Nicht jeder ist
zu einem Helden geboren worden, aber wenn es gar keine Helden gibt, wird
ein unfreies Land die Freiheit nie erleben. Jedes Volk kann Helden gebären
und diese auf seinen Schultern tragen … Es kann sogar ein ganzes Volk zu
einem Helden werden, wenn es zusammensteht, sich seiner Kräfte bewusst wird
und diese in die Waagschale des Geschichtsverlaufs wirft.
Es kann geschossen werden
Als die DDR unterging, war ich gerade einmal 11 Jahre alt. Die Zeit in
diesem Unrechtsregime und sein Untergang haben mich für mein weiteres Leben
ohne Frage stark geprägt. Als im Herbst 1989 die erste Demonstration durch
meine kleine Heimatstadt ziehen sollte, hätte ich mich als Schüler gern
angeschlossen. Endlich passierte auch bei uns etwas, nachdem schon die
halbe Republik auf den Straßen war und protestierte! Mein Vater, ein vom
Staat jahrelang verfolgter Oppositioneller, hat es mir jedoch untersagt,
weil geschossen werden könnte. “Na und?” hatte ich mir damals gedacht. “Was
macht das?”. Sicherlich war das ein wenig kindliche Naivität, die von den
möglichen Folgen keine genaue Vorstellung hatte, aber ich war von meinem
Vater enttäuscht, dass er diese revolutionäre Gelegenheit ausschlug. Wenn
nun alle so dächten, würde niemand demonstrieren gehen. Wenn niemand
demonstrieren ginge, würde alles immer so weitergehen und die DDR
vielleicht heute noch existieren.
Zur Freiheit verurteilt
In “Der Existentialismus ist ein Humanismus” (1946) hat der französische Philosoph Jean-Paul Sartre kurz nach dem
Zweiten Weltkrieg die folgenden folgenschweren Sätze niedergeschrieben:
Zitat: Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, und dennoch frei, weil er, einmal in die Welt geworfen, für all das verantwortlich ist, was er tut.
Wir müssen uns täglich in allem, was wir tun und unterlassen, der
Verantwortung stellen, die wir tatsächlich haben, können uns weder jetzt
noch später herausreden. Wir werden die Folgen unseres Handelns oder
Nichthandelns nicht immer richtig einschätzen können, sollten aber trotzdem
versuchen, die Welt ein wenig besser zu machen, indem wir es selbst wagen,
ein besserer Mensch zu sein, auch wenn wir dafür einige Opfer bringen, auf
einiges verzichten müssen, was weniger anständige Menschen dann vielleicht
in ihre Taschen einstreichen werden – und wir sollten uns nie wie der
tschechische Bildhauer aus dem Video im Prager Kommunismus-Museum, der am
Stalin-Denkmal gearbeitet hat, auf ein “Ich habe doch nur” berufen. Wir
haben immer eine Wahl. Jeder von uns.