Wenn man berichtet, muss man ehrlich berichten – oder besser schweigen: Ich bin nur ein bescheidener Musiker, der noch immer davon zehrt, dass er in seinen Jugendjahren fast täglich drei, vier, manchmal bis zu sechs Stunden Gitarre gespielt hat, über einige Jahre auch mit bzw. in Bands. Das hindert mich aber nicht daran, heute einmal über das Musikmachen zu schreiben, denn seit einiger Zeit mache ich tatsächlich wieder häufiger Musik – ganz einfach, weil es mir unheimlich viel Spaß bereitet und es gelegentlich Lücken in meinem meist recht vollen Leben gibt, die sich dafür anbieten.
Wie sieht nun mein kreativer Prozess aus? Ich erzähle es gern anhand eines realen Beispiels: Ich habe ein paar offene Akkorde im Kopf, eine ungefähre Vorstellung von einem richtig klischeehaften Neofolk-Song mit akustischen Gitarren, einer barbarisch-monoton hämmernden Trommel und einem müden Bass, der im Hintergrund bzw. aus der Tiefe dunkel dröhnt. Wenn man die Apokalypse an einem nächtlichen Lagerfeuer erwartet, wäre das der Sound, den man dazu abspielen sollte. Anders ließe sie sich nicht genießen.
Ich setzte mich an meinen Rechner und lege los, nehme die Gitarrenspur auf, bin anschließend wie immer nicht mit dem dünnen Akustik-Geplärre zufrieden, das ich aus den Kopfhörern wahrnehme, aber mache trotzdem erst einmal weiter: Ein paar einfache Lines sind recht schnell auf meinem analogen Bass eingespielt, dann folgt das Getrommel, das ich mit den Fingern auf einer Maschine erzeuge. Das hört sich alles schon recht nett an, aber es fehlt Atmosphäre, also lege ich einen süßlichen Pad-Teppich unter die bisherigen Spuren, den ich einem Synthesizer entlocke. Jetzt fehlt noch, denke ich, ein wenig Lead-Gitarre, obwohl die in einem Neofolk-Song gar nichts zu suchen hat. Na, egal, ich experimentiere bereits mit verschiedenen Skalen, um zu hören, welche am besten zu den Akkorden passen. Am Ende entscheide ich mich für eine absolut einfache Melodie, die ich nur im Wechsel der Akkorde transponiere und im zweiten Durchgang harmonisiere. Plötzlich stelle ich fest, dass die auf dem bundlosen Bass eingespielte Spur jämmerlich dünn klingt. Das lässt sich beheben, indem ich einfach eine sinusbasierte Synthetikspur aufnehme und den analogen Bass stummschalte, weil er den Wettbewerb verloren hat, denn selbst beim sanften und sauberen Gleiten von Note zu Note kann er nicht mithalten. Bin ich schon fertig? Nein, das bin ich nicht. Dass ich eigentlich einen Neofolk-Song aufnehmen wollte, habe ich mittlerweile ganz vergessen. Warum auch nicht, ich kann machen, was ich will, deswegen habe ich keinerlei Hemmungen, aus dem Pad-Teppich, den ich schon gewebt habe, noch ein paar automatisch abspielende Acid-Lines zu generieren, die richtig schön fiepsen. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, endlich die Akustikgitarre, die in dem Ganzen offenhörbar nichts mehr zu suchen hat, stummzuschalten, denn mittlerweile habe ich – zu meiner großen Verwunderung – die Grundlage für einen wunderschönen Ambient-Track geschaffen. Ich lege noch ein paar dezente Trommelbreaks auf die Übergänge und stelle mir vor, dass hin und wieder eine Snare erschallen sollte, die so stark verhallt ist, dass man denkt, Zeus würde Blitze vom Himmel schleudern. Zaghaft teste ich, ob ich die beiden Lead-Gitarren im Mix lassen sollte. Wohl besser nicht, aber ehe ich mich versehen habe, ist es schon nach Mitternacht und ich muss mit dem ganzen Spaß aufhören, da morgen (d.h. heute) ja wieder ein verdammter Werktag ist.
Es gibt für mich kaum schönere Beschäftigungen als das Musizieren, aber es ist ein echter Zeitdieb. Am Wochenende habe ich einen Song mit 17 Spuren aufgenommen. Er kommt auf eine Spieldauer von knapp 3 Minuten – und ich habe wahrscheinlich 15 Stunden investiert, um mit dem Ergebnis halbwegs zufrieden zu sein, aber am Ende ist es doch eine recht einfache Geschichte geworden, von der ich kaum hoffen darf, dass andere Menschen wiederum ihre Zeit investieren würden, um sie anzuhören, aber das ist absolut kein Drama und wird mich nicht davon abhalten, den nächsten Song mit meinen beschränkten Gaben zu produzieren. Ich hänge die Messlatte nicht besonders hoch und versuche trotzdem, von Aufnahme zu Aufnahme dazuzulernen. Das erfolgreiche Lernen ist ja ohnehin eine der angenehmsten Erfahrungen, die man im Leben haben kann: Lernen und wieder Lernen, solange Körper und Geist dazu fähig sind – aber eben nicht nur Lernen (Lenin war übrigens ein Dummkopf, sage ich denjenigen, welche die eben gemachte Anspielung verstanden haben).
Ich wünschte, ich hätte die heutigen technischen Möglichkeiten gehabt, als ich jung war und noch über sehr viel Zeit verfügte, dann hätte ich damals, obwohl in einem Provinznest wohnend, schon die Musik machen können, die ich wirklich machen wollte – aber mit dem Willen ist es, wie ich oben geschildert habe, so eine Sache. Man geht irgendwo los – und kommt irgendwo an, weil der Weg sich so legt, wie er es will. Dafür danke ich dem Weg – denn andernfalls wäre der Prozess sehr langweilig, wäre alles nur wie das Entwickeln eines Films nach einem vorgeschriebenen Verfahren, bei dem das Resultat, wenn man keine Fehler macht, vorher schon feststeht und am Ende vorliegt.
Das führt mich übrigens wieder auf ein Gebiet, von dem ich meine, mich damit etwas besser auszukennen als mit der Musik: Dem Schreiben. Ist es nicht seltsam, dass ich beim Schreiben vor allem lerne, dass ich sowohl stilistisch als auch inhaltlich etwas anderes machen möchte? Aber nur durch das Schreiben kann ich es erfahren, und nach all den Jahren des Schreibens denke ich, dass ich immer noch am Anfang stehe und mir selbst die Prognose geben muss, niemals über diesen vermaledeiten Anfang hinaus zu kommen: Ich stehe am Anfang, stehe jahrelang am Anfang – und irgendwann einmal ist alles zu Ende, fallen Anfang und Ende in einem Punkt zusammen, als wäre dazwischen gar nichts passiert, was natürlich ein Trugschluss ist: Ich habe immerhin ein wenig gezappelt..
Niemand soll mich falsch verstehen:
Ich klage nicht, ich stelle lediglich fest.