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Ukraine  Eine Reise durch die Ukraine in 113 Gedichten  Ukraine

Nur ein halber Tag der Befreiung

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Sowjetisches Ehrenmal im Treptower Park, Berlin (2012)

Über die schwierige Suche nach einem zeitgemäßen und angemessenen Umgang mit Erblasten der sowjetischen Erinnerungskultur zum Zweiten Weltkrieg im Angesicht des in der Ukraine wütenden russischen Kriegsimperialismus

Der neuerliche russische Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zwingt uns dazu, vieles zu überdenken, wenn wir es nicht schon 2014 oder früher überdacht haben. Da gibt es zum Beispiel die sowjetischen Kriegsdenkmäler, die in den letzten Jahren zu Pilgerorten nationalistischer Russen und ihrer Sympathisanten geworden sind. Der Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg ist für viele Russen identitätsstiftend, er wurde unter Putin über viele Jahre instrumentalisiert; die Erinnerung an ihn ist ein wichtiges Element seiner Propaganda und Ideologie – es gibt dafür sogar einen eigenen russischen Begriff “Pobjedobjesije”, den man mit Siegesbesessenheit übersetzen kann. Wer hat sie nicht vor seinem geistigen Auge, diese monströsen Militärparaden, die jedes Jahr in Moskau am 9. Mai stattfinden, die schier endlosen Panzerkolonnen, die diabolischen Interkontinentalraketen auf Lastzügen, die todbringenden Mehrfachraketenwerfer, all dieses fürchterliche Höllengerät, das stolz vorgeführt wird, und auch die feierlichen Märsche der russischen Bevölkerung, auf denen schon Kleinkinder in Uniformen und Spielzeugpanzern stecken, mit Gewehren spielen …


Sowjetisches Ehrenmal im Tiergarten, Berlin (Mai 2022)
Zwei Beispiele in Berlin
Prominenteste Beispiele der auf den Zweiten Weltkrieg bezogenen sowjetischen Erinnerungskultur in Berlin sind das Ehrenmal im Treptower Park (1949 fertiggestellt) sowie das Ehrenmal im Tiergarten (1945), das durch einen Wink des Schicksals auf dem Gebiet des späteren Britischen Sektors erbaut wurde und damit dann zu West-Berlin gehörte. Die Anlage im Treptower Park ist monumental (10 Hektar), in ihr steht eine 30 Meter hohe Kolossalstatue, die einen Soldaten darstellt, der ein Mädchen auf einem Arm hält und mit dem anderen ein Schwert, das ein am Boden liegendes, zerstörtes Hakenkreuz berührt. Auf dem Areal liegen 7.000 bestattete Sowjetsoldaten, die in der Schlacht um Berlin fielen. Vergoldete Stalin-Zitate, Reliefs mit Lenin-Abbildungen – der ganze Prunk der Sowjetunion, der Stolz ihres Führers, seine spezielle, utilitaristische Schreibart der Geschichte …

Schutz der Kriegsgräber vertraglich gesichert
Ein Vertrag zwischen der BRD und Russland aus dem Jahr 1992 sichert folgendes zu, und hieran hat man sich bisher bei uns auch gehalten, inklusive Instandsetzungsmaßnahmen:

Zitat:

Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland und die Regierung der Russischen Föderation gewährleisten den Schutz der Kriegsgräber und das dauernde Ruherecht für die Kriegstoten der jeweils anderen Seite in ihrem Hoheitsgebiet und bemühen sich, die Umgebung der Kriegsgräberstätten von allen Anlagen freizuhalten, die mit der Würde dieser Stätten nicht vereinbar sind.



Teufelsaustreibung durch den Beelzebub
Wofür stehen diese sowjetischen Ehrenmäler? Nach sowjetischer Lesart natürlich für die “Befreiung vom Faschismus”. Das ist zum Teil auch richtig: Am 8. bzw. 9. Mai Moskauer Zeit 1945 kapitulierte die deutsche Wehrmacht bedingungslos und besiegelte damit das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa. Dieser Tag wird seither gerade in sowjetisch bzw. später russisch beherrschten Gebieten gern als “Tag der Befreiung” (bzw. ”Tag des Sieges”) angesehen und feierlich begangen, aber es war eben östlich der Elbe keine richtige, vollkommene Befreiung, denn dem deutschen Faschismus folgte die sowjetische Diktatur, die Versklavung Osteuropas für viele Jahrzehnte. Der nationalsozialistische Teufel wurde nur vom kommunistischen Beelzebub ausgetrieben.




”Lenin lebt noch” im Treptower Park, Berlin (Mai 2022)
Sowjetische Verbrechen und Geschichtsverklärung
Vergessen wir nicht: Es waren Deutschland und die Sowjetunion, die 1939 den Zweiten Weltkrieg mit der Aufteilung Polens begannen, vertraglich abgesichert durch den Molotow-Ribbentrop-Pakt. Von 1939 bis 1940 führte die Sowjetunion einen Angriffskrieg gegen Finnland, sie annektierte 1940 die drei baltischen Staaten (Litauen, Lettland, Estland) und ließ ihren Geheimdienst, den NKWD, im Massaker von Katyn 21.000 Polen erschießen. Die Deportation der Krimtataren im Mai 1944 ist nur ein weiteres sowjetisches Verbrechen von vielen, von dem uns die Ehrenmäler nichts erzählen.
In der Erinnerung der Sowjetunion (und seit ihrem Zerfall in der Russlands) wird der Zweite Weltkrieg auf den “Großen Vaterländischen Krieg” und damit auf die Jahre 1941 bis 1945 reduziert – vom Überfall der Deutschen bis zu ihrer Kapitulation; deswegen finden sich auf all den sowjetischen Denkmälern immer nur die Daten “1941-45”, nie “1939-45”. Die gut zwei Jahre, in denen die Sowjetunion selbst vor allem Täter und auch Gehilfe des Dritten Reiches war, werden absichtlich ausgeklammert.

Die Zukunft der Vergangenheit
Wie sollen wir heute mit diesen sowjetischen Denkmälern umgehen? In gewisser Weise sind sie schon ein Ärgernis, weil sie seit der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim durch Russland im Jahre 2014 wie eingangs erwähnt Wallfahrtsorte des russisch-faschistischen Mainstreams geworden sind, und weil diese Anlagen eben auch Denkmäler für die jahrzehntelange sowjetische Diktatur in Osteuropa mit all ihren Grauen und Leiden sind. Andererseits muss man trotzdem sagen, dass es in den 1990er Jahren ein geringer Preis war, den Anlagen Pflege und Schutz zuzusagen, wenn nur die sowjetischen Besatzungstruppen abziehen und nie wieder kommen würden. In der jetzigen Kriegssituation fühlt es sich eigentlich müßig an, überhaupt über diese Denkmäler nachzudenken: Wozu noch eine zusätzliche Front aufmachen, an der es wenig zu gewinnen gibt? Und doch drängen diese Anlagen in unser Bewusstsein, weil sie als politische Versammlungsorte genutzt werden, weil es öffentlichkeitswirksame Vorfälle gibt, bei denen sie beschmiert werden und weil sie für eine Tradition der Geschichtsfälschung stehen, die Russland als Nachfolger der Sowjetunion und ihr früheres Kernland bis heute aus politischen Gründen fortsetzt.

Wir werden in Deutschland vorerst weiter mit den sowjetischen Denkmälern leben müssen, aber wir sollten uns bemühen, sie richtig einzuordnen und – sofern es davon noch betroffen ist – unser Geschichtsbild von sowjetischer und russischer Verklärung befreien. Dazu möchte abschließend noch einmal zwei Punkte festhalten, die mir wichtig sind und die nicht oft genug genannt werden können:
  1. Die Sowjetunion war im Zweiten Weltkrieg nicht nur Opfer, sondern auch Täter, sie hat diesen Krieg sogar gemeinsam mit Deutschland gestartet.

  2. Die Sowjetunion ist zwar ein von Russland getriebenes, imperiales Projekt gewesen, aber es ist vollkommen falsch, die sowjetischen Opfer des Zweiten Weltkrieges und den Sieg in diesem an der Ostfront nur dem heutigen Russland zuzuschreiben. Diesen Sieg muss sich Russland mit allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion teilen, unter anderem also auch mit Belarus und gerade der Ukraine.

Veröffentlicht am 04.05.2022

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