Als kleine unbekannte Stadt, in die niemand fährt, außer vielleicht um
seine Schwiegereltern zu besuchen, muss man sehr vorsichtig sein, womit man
sich hervortut und Nachrichten schreibt. Es könnte das einzige Mal sein,
und dieses Mal könnte sich für gefühlt immer, zumindest bei einer ganzen
Generation in das Bewusstsein der Menschen einbrennen. Hoyerswerda in
Sachsen ist so eine Stadt: Eigentlich würde sie niemand kennen, und wenn er
den Namen hörte, würde er sich nichts darunter vorstellen können, wenn es
nicht die ausländerfeindlichen Ausschreitungen im September 1991 gegeben
hätte. Hoyerswerda, das ist der grausame Osten, das sind graue
Plattenbauten, das ist der Niedergang einer menschenverachtenden
Gesellschaftsordnung russischer Provenienz, das ist post-kommunistisches
Arbeitslosenelend, das sind Nazi-Skinheads, Pogrome, Gewalt und Morde. Die
Ausschreitungen sind eine der vielen Mahnungen, dass Sozialismus und
Nationalsozialismus nicht nur Brüder, sondern sogar Zwillinge - im Kern
wesensgleich und leicht verwechselbar - gewesen sind. Es hat nur eine
kleine Wendung gebraucht, um aus fleißigen, disziplinierten
Thälmann-Pionieren und marschierenden FDJ-Blauhemden gewalttätige,
ausländerjagende Nazis zu machen. Das wesentliche hatte man in der DDR
gelernt: Das andere, fremde ist unser Feind und muss vernichtet werden. Der
einzelne ist nichts, die Gruppe ist alles. “Belogen, betrogen, zum Hassen
erzogen” - so stand es damals in den frühen 1990ern an viele Wände
geschrieben. Wer machte diese Graffiti? Dachte sie sich jemand als
Rechtfertigung? Oder war da jemand verzweifelt, dass ihn ein totalitäres
System zu einem hässlichen Menschen gemacht hatte, der zu kaum mehr als
hassen fähig war?
Wenn nicht die Corona-Pandemie uns zu Dingen verleiten würde, die wir sonst
nie in Erwägung gezogen hätten: Ich hätte Hoyerswerda nicht besucht, auch
wenn ich mich viele Jahre gefragt habe, was das wohl für ein Ort sei. Ich
habe die Stadt nun also doch gesehen. Was waren meine Eindrücke? Die Stadt
war leer, bereits direkt auf dem Bahnhofsvorplatz nichts als Leere.
Sanierte spät-stalinistische Wohnriegel mit kitschigen Heile-Welt-Reliefs
an den Fassaden, davor akkurat geschnittener Rasen, saubere Bürgersteige,
weiter abseits dann ebenfalls sanierte Plattenbauten, ein eventuell
entschärfter früherer Aufmarschplatz, eine wegen der aktuellen Umstände
geschlossene Stadthalle, ein paar Trinker in der Sonne vor einer Bierstube,
ein paar Trinker in der Sonne vor einem Dönerladen. Das war es.
Hoyerswerda: Eine ausgeblutete Nachwendestadt, die ihre Zukunft seit 30
Jahren hinter sich hat.
Die Stadt hat in den letzten Jahrzehnten vermutlich einiges unternommen, um
ihren Namen wieder mit Würde tragen zu können, aber wer, der nicht dort
wohnt, nimmt das wahr, wen interessiert es? Vielleicht hätte man sich
irgendwann im Verlauf der 1990er einfach und ganz leise über Nacht in
Wojerecy, was der obersorbische Name von Hoyerswerda ist, umbenennen
sollen. Ein schnöder, scheinheiliger Namenswechsel wie bei Unternehmen, die
ihren Ruf ruiniert haben, aber weiter am Markt tätig sein wollen. Nur für
wen?