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Eine denkwürdige Schnurre

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Warum ich jüdische Literatur lese und ein Beispiel einer moralischen Geschichte, das ich in ihr gefunden habe

Nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 lese ich jüdische Literatur. Dabei ist gerade auch vor die Zeit des Holocaust zu schauen ein Teil meiner Beschäftigung mit der deutschen Schuld, denn dieses Lesen ist ein Versuch, zu verstehen, was die Generation meiner Groß- und Urgroßeltern an menschlichem Reichtum vernichtet hat. Ein Reichtum, der für immer verloren ist, und der – auch wenn es unangebracht scheint, mit ökonomischen Begriffen darüber zu reden – unser Land deutlich ärmer gemacht hat. In schriftlichen Zeugnissen wie zum Beispiel von Soma Morgenstern, Joseph Roth oder Karl Emil Franzos kann man sich dieser jüdischen Welt nähern und sie im eigenen Kopf wiederbeleben. Eine besonders interessante Quelle ist für mich “Das Buch von den polnischen Juden”, welches 1916 im Jüdischen Verlag (Berlin) erschien und vom späteren Nobelpreisträger (1966) Samuel J. Agnon sowie Ahron Eliasberg herausgegeben worden ist. In diesem Buch ist auch die folgende Schnurre enthalten, die ich gern kurz nacherzähle.

Von Kilikow zu Kulykiw
Der Ort der Handlung ist Kilikow im damals noch polnischen Ostgalizien. Heute heißt er Kulykiw und gehört zur Ukraine. Kulykiw ist nur eine kleine Siedlung städtischen Typs im Oblast Lwiw, gelegen am Flüsslein Dumny, was im Polnischen “stolz” bedeutet. Aber das nur nebenbei und zur ungefähren Einordnung der Schnurre. Also, sie ist wirklich schnell erzählt:

Das Kilikower Urteil
Der Schuster von Kilikow hat einen Mord verübt und wird zum Tod durch den Strang verurteilt. Man führt ihm zu Galgen, das Urteil zu vollstrecken, aber die Einwohner von Kilikow werden plötzlich ganz grüblerisch, als sie verstehen, was vor sich geht und was es am Ende bedeutet, denn mit Schrecken stellen sie fest, dass sie nur einen einzigen Schuster im Ort haben – und den sollen sie jetzt am Galgen verlieren? Was kann man tun? Die Zeit drängt. Ist es recht, in einem Ort zu leben, der keinen Schuster mehr hat, aber dafür zwei Schneider? Man könnte doch lieber einen von diesen beiden nehmen und ihn aufhängen. Kaum gesagt, ist es schon getan. Man fasst einen der beiden Schneider und hängt ihn anstelle des Schusters auf. ”Darum”, so heißt es am Ende der Schnurre, ”wird von jedem seltsamen Urteil gesagt: Es ist ein Kilikower Urteil”.

(K)Eine Interpretation
Eine interessante kleine Erzählung, die einen zum Nachdenken herausfordert. Sobald man versucht, sie anderen zu erklären, kann man sie eigentlich nur kaputt machen, weil man dem Leser die Gedankenarbeit abnimmt, aber ich will doch kurz feststellen, was ganz offensichtlich ist, nämlich dass sie ein großes allgemein-menschliches Problem berührt, was darin besteht, den eigenen Nutzen über das Recht zu stellen. Um wie vieles besser wäre die Welt der Menschen, wenn sie das Recht nicht immer wieder zu ihrem Nutzen beugen, wenn sie die Wahrheit nicht für die für sie kurzfristig vorteilhaftere Lüge eintauschen würden? Welche mit Gewalt ausgetragenen Konflikte gäbe es dann noch unter den Menschen?

Eine Modernisierung der Schnurre
Wollte man die oben nacherzählte Schnurre modernisieren, würde man statt von einem Schuster gewiss lieber von einem Schuhmacher reden, denn wer weiss denn noch, was ein Schuster überhaupt ist. Was also würden die Leute heute in Kulykiw sagen, wenn sie sich analog zu den damaligen verhielten? ”Den Schuhmacher brauchen wir schon lange nicht mehr, aber wir haben im Ort noch zwei Schneider, die auch niemand mehr braucht. Wir sollten am besten alle drei aufknüpfen, dann lösen wir nicht nur ein einziges Problem”.

Natürlich sagen die Leute von Kulykiw nichts dergleichen, weil sie nämlich sehr nette und vernünftige Menschen sind. Ohnehin wurde in der Ukraine bereits 2001 beschlossen, die Todesstrafe abzuschaffen. Seit 1995 wurde sie nicht mehr vollstreckt.

Veröffentlicht am 19.11.2023

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