Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat uns dazu gebracht,
vieles, was mit Russland zusammenhängt, neu zu bewerten, was lange einfach
als gegeben unangetastet dastehen konnte, so auch etliche Klassiker der
russischen Literatur, nicht zuletzt den größten Romancier Russlands, Fjodor M. Dostojewskij (1821–81), den man üblicherweise für einen Weltliteraten hält. Gerade
Dostojewskij ist eine extrem widersprüchliche Figur, die nur sehr
vereinzelt so kritisch untersucht worden ist, wie sie es eigentlich
verdient hat. Berühmt sind vor allem sein Kriminalroman “Verbrechen und Strafe” (1866, auch bekannt unter dem früheren Titel: “Schuld und Sühne”) sowie
sein letztes voluminöses Hauptwerk “Die Brüder Karamasow” (1880). Weniger bekannt sind bei uns die politischen Schriften
Dostojewskijs, beispielsweise das “Tagebuch eines Schriftstellers”. Darin heißt es im Januar 1877:
Zitat: Jedes große Volk, das lange leben will, glaubt und muß glauben, daß in ihm und nur in ihm allein das Heil der Welt ruhe daß es nur dazu lebe, um an der Spitze der anderen Völker zu stehen, um sie alle in sich aufzunehmen und sie in einem harmonischen Chore zum endgültigen, ihnen allein vorbestimmten Ziel zu führen!
Das russische Volk ist für Dostojewskij natürlich so ein großes Volk, das
sich berufen fühlen darf, sich über alle anderen Völker zu erheben. Anders
kann es gar nicht sein – daher redet er davon, dass es daran “glauben muss”. Natürlich kann man in Rechnung stellen, dass diese extrem
nationalistischen Ansichten im 19. Jahrhundert geäußert worden sind,
frappierend und erschütternd ist allerdings, dass sie in Russland auch im
21. Jahrhundert zum Mainstream gehören. Eigentlich fällt man heutzutage als
Autor in der westlichen Welt schon für viel weniger in Ungnade und fliegt
aus den Programmen und Regalen.
Auffällig ist bei Dostojewskij immer die extreme Verbrämung seines
eiskalten Ultranationalismus: Ja, Russland gehört an die Spitze der
Menschheit und darf sich, was schon nicht mehr klar ausgesprochen wird,
andere Völker unterwerfen, was ja nur durch Gewaltanwendung zu
bewerkstelligen ist, aber es ist letztlich bloß zum Wohle aller. Es ist wie
bei einem Vater, der einen schlägt: Weil es gut für einen ist – wobei das
Bild nur passt, wenn wir davon ausgehen, dass es nicht der eigene, sondern
ein wildfremder ist.
Gefragt werden die anderen Völker natürlich nicht, ob sie die russischen
Segnungen als solche empfinden und überhaupt erhalten wollen. Gefragt wird
nicht, weil Dostojewskij sich eine Gesetzmäßigkeit ausgesponnen hat, an der
es keinen Weg vorbei gibt. Was bei Dostojewskij Worte sind, war in der
Sowjetunion später Praxis: Ihre Expansion sollte auch dem Wohl der
Menschheit dienen, während das Land in Wahrheit ein verkleidetes,
umbenanntes Russland war, das sich andere Nationen kriegerisch unterwarf,
diese mit einem erdrückenden Gewaltapparat quälte, jahrzehntelang auf ihr
erbärmliches Niveau niederzog und schamlos ausbeutete.
Hässliche Ansichten
Wie kam ein Dostojewskij, dem man gemeinhin so viel Respekt für sein
literarisches Schaffen zollt, zu solchen hässlichen Ansichten? Was war zu
seiner Zeit groß an Russland – außer das in unzähligen Kriegen
zusammengeraubte Land selbst, dass er solche Ansprüche formulieren konnte?
Dostojewskij war doch selbst einmal ein Kritiker des Staates gewesen, aber
nach seiner Scheinhinrichtung und Verbannung nach Sibirien scheint etwas
ihm zerbrochen zu sein. Er hat sich der Gewalt des Zarenreiches gebeugt.
Deswegen muss man Sigmund Freud Recht geben, wenn er über den
Schriftsteller wie folgt hart urteilt:
Zitat: Nach den heftigsten Kämpfen, die Triebansprüche des Individuums mit den Forderungen der menschlichen Gemeinschaft zu versöhnen, landet er [Dostojewskij] rückläufig bei der Unterwerfung unter die weltliche wie unter die geistliche Autorität, bei der Ehrfurcht vor dem Zaren und dem Christengott und bei einem engherzigen russischen Nationalismus, eine Station, zu der geringere Geister mit weniger Mühe gelangt sind. Hier ist der schwache Punkt der großen Persönlichkeit. Dostojewski hat es versäumt, ein Lehrer und Befreier der Menschen zu werden, er hat sich zu ihren Kerkermeistern gesellt; die kulturelle Zukunft der Menschen wird ihm wenig zu danken haben.
Aus: “Dostojewski und die Vatertötung” (1928)
Wie anders der ukrainische Schriftsteller Stanislaw Assjejew, der 1989 in
Donezk geboren wurde und zwischen 2017 und 2019 wegen seiner
journalistischen Tätigkeit in der Gefangenschaft russischer Faschisten war,
die sich dem international nicht anerkannten russischen Fantasiestaat, der
sogenannten Donezker Volksrepublik, zurechneten. Assjejew ist nicht zu
Kreuze gekrochen und kein Diener des aktuell herrschenden russischen Zaren
geworden. Er hat anschließend ein Buch über die Folterkeller der Russen
geschrieben, quasi auch “Aufzeichnungen aus dem Kellerloch” (1864).
Eine Welt ohne das totale Böse
An dieser Stelle ist ein kleiner Exkurs vonnöten, der zu erklären sucht,
warum sich Menschen Unterdrückungsmaschinen, wie der russische Staat eine
ist, ergeben und ihr Verhalten in deren Sinne anpassen. Man braucht sich
nur in Deutschland umzuschauen, wer mehr oder weniger offen gegen die
Ukraine eingestellt ist. Ich denke jetzt nicht an Gerhard Schröder, Sahra
Wagenknecht, Gregor Gysi, Johannes Varwick, David Richard Precht, Margot
Käßmann, Alice Schwarzer, Michael Kretschmer usw. usf. – ich denke an ganz
gewöhnliche Menschen, die wenn, dann nur zufällig persönlich in den Medien
auftauchen. Vielleicht gibt es unter ihnen auch welche, die sich
pro-russisch positionieren oder zumindest Verständnis für die barbarischen
Aktivitäten Russlands aufbringen und es nicht aus reiner moralischer
Schlechtigkeit tun, sondern weil sie vor allem schwache, harmoniebedürftige
Menschen sind, welche die schreckliche Wirklichkeit nicht ertragen können.
Diese Menschen “denken nach” und versuchen, sich die Situation abseits der
Fakten zu erklären: Russland muss doch gute Gründe haben, wenn es sich so
verhält, wie es sich verhält – und zu einem Streit gehören doch immer zwei,
einer allein kann sich nicht streiten und jede der Seiten trägt irgendwie
ihren Teil der Schuld.
Für manche mag es wirklich einfacher sein, sich in eine solche ersponnene
Parallelwelt zu flüchten, in welcher es das totale Böse, wie es nun einmal
existiert, einfach überhaupt nicht gibt. Solche Menschen sind dann
argumentativ kaum noch zu erreichen: Sie stecken den Kopf in den Sand, um
sich selbst zu schützen – damit sie nicht an der Wirklichkeit zerbrechen.
Was sie dabei nicht bedenken: Ihre Flucht zerbricht einen Teil der
Menschlichkeit und sorgt mit dafür, dass die Welt der Menschen keine
bessere wird.
Persische Gärten und russische Panzer
Zurück zu Dostojewskij: Ich kann mir vorstellen, dass es genau eine solche
Schwäche war, die ihn dazu gebracht hat, sich nach oder schon während
seiner Gefangenschaft zu beugen und dem russischen Staat zu dienen. Wie
oben geschildert, ist die Wirklichkeit manchmal für manche zu schrecklich,
um sie im Kopf also solche anzuerkennen, deswegen blieb vielleicht auch dem
rückgratlosen Schriftsteller nur der Ausweg, sich mit voller Kraft in den
groß-russischen Wahn zu stürzen. Folgt er damit nicht nur Hegels
skandalösem Diktum: ”Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist
vernünftig”?
Forscher haben bisher kaum Quellen gefunden, die uns Dostojewskijs
dramatischen Wandel erklären. Die Heimat Dostojewskijs war – ich darf es
sicherlich einmal so drastisch ausdrücken – eine stinkende Kloake, in der
nur die Ruchlosen gediehen. Die ehrlichen, die Liebhaber der Freiheit,
waren verdammt dazu, in ihr unterzugehen. Ist der Selbstbetrug in so einer
Situation dann nicht eine mögliche Rettung: Sich die Kloake als persischen
Garten vorstellen, das russische Volk als seine erhabenen Gärtner, die
einmal die ganze Welt in einen paradiesischen persischen Garten verwandeln
werden?
Vorstellen kann man sich unheimlich vieles. Real kommen die Russen
allerdings nie mit bunten Rosen, sondern immer mit allerlei fürchterlichem
Mordgerät in die fremden Länder, die sie sich unterwerfen wollen.
Der imperiale Mindset
Es ist vielleicht gar nicht so schwierig, sich in die Sicht des russischen
Herrenmenschentums einzufühlen. Man muss sich nur einmal vorstellen, man
wäre selber in diesem gigantisch großen russischen Imperium als Russe mit
russischem Namen und Aussehen geboren worden und aufgewachsen: Man hat die
geographische Ausdehnung des Landes sowie die Privilegiertheit gegenüber
den anderen in Russland lebenden Ethnien erfahren, man hat die absichtsvoll
verbogenen Geschichtserzählungen in sich aufgesogen und glaubt sie gern,
weil sie dem Staat nützlich sind und das Zweifeln an ihnen nur zu jeder
Menge Schwierigkeiten führt, man hat seine eigene Nichtigkeit
verinnerlicht, sofern man sich nicht in der Identität mit dem Staat
aufgegeben und sich dessen Riesenhaftigkeit als imaginierten Abglanz zu
seiner eigenen gemacht hat. Wenn man dann zu den Glücklichen gehört, die
sich das Reisen leisten können, darf man im ehemaligen Ostblock, Finnland
und den früheren Republiken der Sowjetunion mit hoch erhobener Nase
herumreisen und sich genüßlich denken: »Das hat alles einmal uns gehört, wir waren Eure Herrscher – und wenn wir wollen, holen wir es uns morgen schon alles mit unserem Militär zurück. Wir sind unbesiegbar. Wir
sind Russen«. Und so kommt es dann auch zu solchen Ereignissen wie mit dem
russischen Kreuzfahrtschiff »Astoria Grande«, das im Juli 2023 im
georgischen Schwarzmeerhafen Batumi anlegen will. An Bord sind viele
bekannte Putinisten, denen es egal ist, dass sie ein Land, das ihre Armee
bereits zu einem Fünftel seit 15 Jahren besetzt hält, besuchen und nicht
von jedem willkommen geheißen werden. Es kommt zu Protesten. Laut
Medienberichten soll sich eine russische Touristen erklärt haben: »Wir sind alle die Sowjetunion, ein großes und schönes Land«. Russland kann demnach Teile von Georgien gar nicht okkupieren, weil es
sowieso zur Sowjetunion gehört, obwohl diese bereits vor über 30 Jahren
zerfiel, was übrigens an einem absoluten Glanztag der jüngeren Geschichte
der Menschheit geschah. Derartige Russen leben nicht nur in der
Vergangenheit, sie leben in einem Wahn, der tödliche Konsequenzen hat. Und
die Sowjetunion war natürlich nicht “schön”, sie war die Hölle auf Erden.
Russischer Größenwahn
Es ist der gleiche russische Größenwahn, von dem auch Dostojewskijs
infiziert war. Die Romanfigur Schatow lässt er in “Böse Geister” (1872, auch: “Die Dämonen”, Kapitel 19) folgendes sagen, und es verdient,
ausführlich zitiert zu werden:
Zitat: Die Kraft der Religion, durch die sich die Völker bilden und bewegen, ist eine befehlende und herrschende Kraft, die zugleich als ästhetisches und ethisches Prinzip gewertet werden kann. Sie ist das Suchen nach Gott, und zwar nach seinem eigenen Gott. Noch nie ist es vorgekommen, daß alle oder viele Völker einen gemeinsamen Gott gehabt hätten. Es ist ein Symptom des Schwindens der Nationalität, wenn die Götter anfangen, gemeinsam zu werden. Je stärker ein Volk ist, desto ausschließlicher gehört ihm sein Gott. Jedes Volk ist nur so lange ein Volk, als es seinen besonderen Gott hat und alle übrigen Götter auf der Welt unversöhnlich ausschließt, nur solange es daran glaubt, dass es durch seinen Gott alle übrigen Götter besiegen wird. Die Hebräer haben nur dazu gelebt, um den wahren Gott zu erwarten, und haben der Welt den wahren Gott hinterlassen. Die Griechen vergötterten die Natur und vermachten der Welt ihre Religion, d. h. die Philosophie und die Kunst. Rom vergötterte das Volk im Staate und vermachte den Volkern den Staat. Wenn ein großes Volk nicht glaubt, daß es allein fähig und dazu berufen ist, durch seine
Wahrheit alle anderen zu retten, dann verwandelt es sich sogleich in ein ethnographisches Material und hört auf, ein großes Volk zu sein. Ein großes Volk verlangt unbedingt, ausschließlich den ersten Platz einzunehmen. Ein Volk, das diesen Glauben verliert, ist kein Volk mehr. Es gibt nur eine Wahrheit, und folglich kann nur ein einziges Volk den wahren Gott haben, wenn auch die übrigen Völker ihre eigenen, großen Götter verehren. Der einzige Träger des wahren Gottesglaubens ist aber das russische Volk.
Sicherlich muss man sich hüten, die Worte Schatows 1:1 für Dostojewskijs
persönliche Anschauungen zu halten, es handelt sich schließlich um einen
Roman, allerdings möchte ich gern darauf hinweisen, wie sehr sich das oben
angeführte Zitat aus dem Tagebuch (”Jedes große Volk, das lange leben will …”) mit den letzten Sätzen des soeben gebrachten längeren Zitats deckt. Den
Hinweis auf die beiden Stellen verdanke ich Josef Bohatec, der in seiner
Dostojewskij-Monographie den Imperialismus des Autoren untersucht und die
Quellen des Russen offenzulegen versucht hat. Allerdings hätte er weitaus
kritischer sein können.
Wer sich einen Spaß machen will, kann übrigens Dostojewskijs politische
Schriften gern einmal daraufhin untersuchen, wie häufig er in ihnen das
Wort “Volk” gebraucht …
Dostojewskij, der große Erzähler, ist auch jemand, der seine Figuren endlos
und unappetitlich von Gott, dem (russischen) Volk und Russland hat
schwafeln lassen und von dem wir leider annehmen müssen, dass er als Feind
alles nicht-russischen, sowohl fremder Völker als auch Religionen, heute
den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine unterstützen würde, weil er
in ihm einen Schritt der Verwirklichung der von Russland getragenen
Allmenschheit sehen könnte. Freilich gibt es auch gegenläufige Textstellen
bei Dostojewskij, in denen er sich beispielsweise europafreundlicher
darstellt, aber unter dem Strich und vom Ende her betrachtet ist er ein
Dichter der unheilbringenden russischen Welt.
Eine ungeheuerliche Abgründigkeit
Natürlich kann man Dostojewskij weiterhin für einen großen Literaten
halten, wenn man seine politische Schlagrichtung und damit den Sinn hinter
seinen Werken ignoriert. Ich finde aber, dass man sich viel bewusster
werden sollte, für welche Werte er sich eingesetzt hat und man sich dann
auch fragen sollte, wie sehr man mit ihnen übereinstimmt – und ob man an
der Verbreitung dieser Werte, die durch die Werke transportiert werden,
einen Anteil haben möchte.
Ich selbst bin in einem Haushalt aufgewachsen, in dem alle umfangreichen
Hauptwerke Dostojewskijs bis auf die “Bösen Geister” (möglicherweise
erschienen sie erst sehr spät, nämlich 1985, wobei ich nicht sicher bin, ob
es tatsächlich die früheste DDR-Ausgabe gewesen ist) im Bücherregal
standen, und selbstverständlich habe ich sie alle bereits als Teenager
gelesen. Die “Bösen Geister” konnte ich dann in der BRD in den mittleren
1990er Jahren ergänzen. Unser Haushalt war so aufgestellt, weil er in der
DDR gegründet wurde – deswegen suchte man darin viele Schätze der
Weltliteratur (Nietzsche, Kafka, Camus, Sartre usw.) vergeblich. Russische
Literatur hingegen war erhältlich und daher vorhanden, es war im Sinne der
Besatzer, dass sich DDR-Bürger damit befassten, natürlich nur mit einer
genehmen Auswahl. Von den russischen Romanschreibern hat mir Dostojewskij
damals am besten gefallen: Man konnte sich in seinen Werken wirklich
verlieren und komplett abtauchen. Diese ungeheuerliche Abgründigkeit war
schon faszinierend, überall in Dostojewskijs Werken findet sich
menschlicher Unrat: Armut, Verbrechen, Wollust, Gier, Niederträchtigkeit
und dergleichen, die bekommt man in dieser Fülle nicht an jeder Ecke
geboten. Wer hat denn nicht heimlich mit Rodion Raskolnikow, dem Mörder,
sympathisiert und vielleicht sogar gehofft, dass er mit seinem Verbrechen
davon käme? Die “Brüder Karamasow” habe ich auch gern gelesen, mich dann
aber schon gefragt: Was soll das alles, hat es mir irgendetwas zu sagen,
oder war es nur Zeitvertreib? Warum soll Aljoscha Karamasow ein
Hoffnungsträger sein – er ist doch so langweilig wie ein weißes Blatt
Papier? Vermutlich hat auch die russische Prägung, die ich als Kind in der
DDR erhielt, dazu beigetragen, dass mich Dostojewskij so gut erreichen
konnte: Aus beiden rann die gleiche Trostlosigkeit, es war eine mir
bekannte Sprache.
In meinen Zwanzigern lernte ich Dostojewskij noch einmal als Kritiker
kommunistischer Utopien schätzen – insbesondere in den schon erwähnten “Aufzeichnungen aus dem Kellerloch”. So kompakt, klar und griffig hat er später nicht mehr geschrieben.
Keine Heiligen
Schriftsteller sind Zeugen ihrer Zeit und ihres Lebens – ganz gleich, wie
viel und mit welcher Qualität sie als Textproduzenten gearbeitet haben,
aber auch wenn sie Texte verfassten, die von Millionen Menschen gelesen
wurden und werden, sind sie keine Heiligen. Wir dürfen und müssen sie sogar
kritisch hinterfragen. Das gilt für Fjodor Dostojewskij wie für Thomas Mann
wie für Franz Kafka wie für viele andere.
Dostojewskij ist schuld
Wenn wir Dostojewskij beim Wort nehmen und ihm zugeben, dass niemand
unschuldig ist, was er sich übrigens nicht als erster ausgedacht hat, so
dürfen wir berechtigterweise sagen:
Auch Dostojewskij ist schuld am russischen Krieg gegen die Ukraine. Wenn
wir ihn nicht bei diesem Wort nehmen, sondern bei seinen vielen anderen,
dürfen wir es mit einer noch größeren Berechtigung sagen und sind damit
selbst aus der erstgenannten, allgemeinen Schuldrechnung gefallen:
Auch Dostojewskij ist schuld am russischen Krieg gegen die Ukraine, denn er
hat zu seiner Zeit den gleichen ultra-nationalistischen, russischen Ungeist
wie die völkermordenden Putin-Terroristen von heute vertreten. Wenn er uns
dabei etwas von einem “harmonischen Chor” als eigentlichem Ziel erzählt hat – nun, davon darf man sich ebenso wenig
täuschen lassen wie von der russischen Staatspropaganda. Auf manchmal
verführerisch hübsche Worte fallen wir schließlich nicht herein, weil wir
auf die Essenz zu schauen wissen – und stark genug sind, die Wirklichkeit
auszuhalten.
Im Übrigen hat die Welt weder Bedarf an potemkinschen Fassaden – noch an
Russland, da nur ohne Russland mehr Frieden auf der Welt möglich ist. Der
Bedarf an Kulturgütern von Dostojewskij & Konsorten dürfte sicherlich auch
stark gesunken sein. Das ist nur eine Quittung für Russlands blutige und
bodenlose Barbarei.
Literatur
– Bohatec, Josef: Der Imperialismusgedanke und die Lebensphilosophie
Dostojewskijs. Ein Beitrag zur Kenntnis des russischen Menschen. Graz. 1951
– Frank, Joseph: Dostoevsky: A Writer in His Time. Princeton. 2009
– Berdyayev, Nikolai: Dostoevsky: An Interpretation. New York. 1934 (?)
– Gerigk, Horst-Jürgen: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: Vom
›Toten Haus‹ zu den ›Brüdern Karamasow‹. Frankfurt am Main. 2013
– Kohn, Hans: Propheten ihrer Völker. Mill, Michelet, Mazzini, Treitschke,
Dostojewski. Studien zum Nationalismus des 19. Jahrhunderts. Bern. 1948
– Masaryk, Tomáš Garrigue: Russland und Europa. Jena. 1913