Dass man sich mal mit einer befreundet, von der man anfangs dachte: "Überhaupt nicht aufnehmen. Links liegenlassen", das war auch für Christa Wolf zu einem gewissen Zeitpunkt in ihrem Leben
eine neue Erfahrung. Niedergeschrieben hat sie sie in ihrem Buch
"Nachdenken über Christa T." (1975). Dieses Nachdenken ist für
Wolf vor allem ein "Nach-denken", denn Christa T., wie auch immer
sie im wirklichen Leben geheißen haben mag, ist tot. Früh an Leukämie
verstorben. Hinterlassen hat sie ihre Kinder, einen Mann, ein Haus - und
diverse Stapel schriftlicher Aufzeichnungen. Schreibversuche, Briefe,
Notizen. Wolf hat sich durch diesen "literarischen" Nachlass
gearbeitet, in ihm nach ihrer Freundin gesucht, um sich an sie zu erinnern,
sie in Gedanken und im Gedenken wiederzubeleben, sie vor allem aber besser,
umfassender zu verstehen. In ihrem Buch erzählt die Schriftstellerin, wie
sie Christa T. kennengelernt hat, versucht, sich Ereignisse aus deren
Leben, an denen sie nicht teilnehmen konnte, nachträglich zu erschließen,
sie zeigt uns einen von der allgemeinen Norm abweichenden Menschen, wie er
aufwächst, sich später als idealistischer Deutschlehrer abmüht und als "Tierarztfrau in einer mecklenburgischen Kleinstadt" endet.
Wolf weiss: "Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen". Und so bleibt auch hier nur eine Annäherung an das, worüber gesprochen
werden soll: die Verstorbene. Lücken müssen gefüllt werden, wie es - gemäß
der eigenen Logik - Sinn macht. Die Lebenden ergreifen Besitz von den
Toten, kaum dass sie tot sind. Manchmal widmet man ihnen wie Wolf ein
ganzes Buch, denn geschriebene Zeilen bringen, wie sie meint, Trost und
nicht nur die großen Lebensläufe seien betrachtenswert. Auffassungen, denen man nicht widersprechen muss.
Das eingangs im Buch angebrachte Becher-Zitat ist programmatisch:
"Was ist das:
Dieses Zu-sich-selber-Kommen des Menschen"
Wann lebt der Mensch, woraufhin? Warum verschiebt er sein eigenes Leben
immer in die Zukunft und hat in der Gegenwart immer noch dieses oder jenes
hinter sich zu bringen, was ihm lästig ist: die Schule, die Ausbildung, die
Zeit der Berufstätigkeit... Was ist mit dem Jetzt - vergisst es der Mensch
bei seinem Weit-Blicken nicht gar zu oft?
Christa T. ist, wie schon angedeutet worden ist, ein Sonderling gewesen
(der politisch korrekte Sprachvergewaltiger würde natürlich sagen: eine Sonderlingin). In die Kollektivmeierei des sozialistischen Alltags hat sie sich nur
schwer einpassen können, hat sich gefürchtet vor den phantasielosen
Tatsachenmenschen, ihre persönlichen Nischen gesucht: die Familie, das
Schreiben. Lange konnte sie sich nicht in ihnen niederlassen. Wurde aus
Fremdheit schließlich Krankheit?
"Nachdenken über Christa T." ist vor allem auch ein Nachdenken
über das Leben und Sterben an sich. Natürlich geht es in dem Buch teilweise
um DDR-spezifische Probleme, doch nimmt ihm dies nichts von seiner
Aktualität. Der Mensch muss sich zu jeder Zeit mit seiner Existenz
auseinandersetzen, die Nicht-Mehr-Existenz von Nahestehenden verarbeiten,
die einen meist unerwartet überrascht und dadurch gehörig aus der Bahn
wirft. Die Frage, ob man "Nachdenken über Christa T." lesen
möchte (sollte?), ist genauso persönlich wie das Buch selbst und muss von
jedem, der sie sich stellt, entsprechend beantwortet werden.
Abschließend noch zwei Sätze, die es wert sind, zitiert und gelesen zu
werden:
"Was fehlt der Welt zu ihrer Vollkommenheit? Zunächst und für eine
ganze Weile dies: die vollkommene Liebe".
"Die Konflikte ergreifen den ganzen Menschen, zwingen ihn in die Knie
und vernichten sein Selbstwertgefühl".