Alles im Leben ist einzigartig, selbst, was dem trägen Bewußtsein als
Wiederholung erscheint: ist einzigartig. Jeder schnöde Tag im Leben, jede
Nacht im ewig selben Bett, jede noch so oberflächliche Bekanntschaft mit
anderen Menschen. Das Leben in seinen Manifestationen ähnelt sich nur in
seinen Formen, nie in seinen Inhalten. Und viel zu oft erkennen wir dies
erst im Rückblick, im Moment des Verlustes und später: Wenn ein Mensch aus
unserem Leben geschieden ist, wenn er ganz aus dem Leben geschieden ist,
wird deutlich, was er uns eigentlich bedeutet hat und was wir versäumt
haben zu tun, um ihn in unserem Leben, um ihn im Leben zu halten. Da ist es
wie mit der Jugend und dem Überfluss, den sie ihrem Besitzer bietet: Erst,
wenn man sie verloren hat, kann man ihren ungenutzten und verschwendeten
Reichtum einschätzen, aber dieses Nachhinein ist auch eine Täuschung: Der
Zeit.
Von diesen Verlusten auch und gerade schon in der Jugend berichtet der
Roman "Kokoro" (1914), geschrieben vom Japaner Natsume Soseki
(1867 - 1916). Soseki, dem heute eine gewichtige Rolle in der Literatur
seines Landes eingeräumt wird und der auch schon auf Yen-Scheinen zu sehen
war, schildert uns ein Japan im Umbruch - wie es aus seinen eigentümlichen
Traditionen den Weg in die Moderne findet und mit welchen Schmerzen diese
immer irrende Wanderung verbunden ist.
"Kokoro", so rät der englische Traducteur Edwin McClellan, lässt
sich am ehesten mit "Das Herz der Dinge" übersetzen. Es ist ein
dunkles, einsames Herz, das zu keinem anderen finden kann. Schilderungen
einer Jugend, die noch nicht zu leben weiß... und die in die Welt fragend
hinausschreit: "Wie kann ich entfliehen, außer durch Glauben, Wahnsinn
oder Tod?".
Es ist ein junger Student, den diese Frage bedrückt und der uns in der
ersten Person von seinen Leiden am Leben erzählt. Aber es sind wiederholte
Leiden, die sein erwachsener Freund Sensei schon zuvor erfahren, und davor
wieder dessen Freund. Wie kann ich entfliehen? Eine falsche Frage. Auch auf
falsche Fragen gibt es Antworten.
Was ist so seltsam am Leben? Warum sind die Freuden der anderen Menschen
nicht auch die eigenen Freuden? Warum zieht es den Ich-Erzähler aus Kokoro
zu diesem seltsamen, älteren Sensei, der sich am Meeresbaden mit einem
ebenso seltsamen Falang erfreut? Sensei, der offensichtlich nicht besonders
glücklich verheiratet ist und immer wieder allein das Grab seines Freundes
aus Studentenzeiten aufsucht? Sensei, der Recluse (Hikikomori).
Suchen. Suchen wonach? Nach dem richtigen Leben, dem richtigen Selbst. Aber
Sensei konnte es nicht finden, ebensowenig sein verstorbener Freund, da sie
das Zauberwort, von dem Joseph von Eichendorff in seinem berühmten
Vierzeiler spricht, nicht getroffen haben und die Welt für sie nicht zu
singen anfing. Die einzige Gestaltungsmöglichkeit für ihr Leben, die den
beiden blieb, war sein bewusst herbeigeführtes Ende: Der Suizid. So
wiederholt sich das Leben doch - eben in seinen Formen. Auch für den
Ich-Erzähler?
Vielleicht. Heute wäre es für alle drei Menschen, die in "Kokoro"
die trübe Seite des Lebens für sich gebucht haben, einfacher. Aber das
Leben ist ja einzigartig und in seiner Zeit gefangen und so mussten diese
Menschen an der sie umgebenden Gesellschaft scheitern.