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In the house of my fear

Joel Agee

"Jeder Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht." (Büchner): Es ist ein Abgrund, in den Joel Agee (geb. 1940), der Autor der Memoiren "In the house of my fear", hinabsieht und stürzt, während er nach seinem Zuhause, seinem Platz in der Welt, fahndet. Mit einem Novalis-Zitat beginnt er seine Aufzeichnungen: "Wohin gehen wir denn? Immer nach Hause.". Was heisst das für einen jungen Mann, der als US-Amerikaner seine frühe Kindheit in Mexiko und seine spätere im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands verbracht hat: die Eltern überzeugte Kommunisten, der Schriftsteller-Stiefvater Teil der Nomenklatura; und dann 1960 die Trennung der Eltern und die Rückkehr mit der Mutter in die Geburtsstadt New York. Wo ist jemand mit so einer Biographie zu Hause? Wie wird er sein Leben weiterzeichnen?

Etwas aus seinem Leben machen - das ist selten leicht, wenn man ein Sohn eines gesellschaftlich erfolgreichen Vaters ist, so auch für Joel und seinen sechs Jahre jüngeren Bruder Stefan. "In the house of my fear" ist die Geschichte vieler Wirrungen: Leben, Leiden und Tod. Als Seemann schlägt es den jungen Joel, um seinen Liebeskummer zu begraben, kurzfristig nach Australien, dann treibt ihn die Idee, einen Film auf Cuba zu drehen, zurück nach Ost-Berlin, wo er vergeblich um finanzielle Unterstützung sucht; aber er wird als Teilnehmer einer konspirativen Reise wenig später Cuba mit eigenen Augen sehen. Konspirativ, weil es US-Bürgern damals mehr oder minder verboten war, in das Land Che Guevaras und Fidel Castros zu reisen. Auf Cuba freundet sich Joel mit einer minderjährigen Tänzerin an - ein kurzes Intermezzo, schon bald geht es zurück in die USA. Dort ändert eine als versehentlich eingenommen geschilderte Dosis LSD im Jahre 1964 sein Leben. Alles verläuft ganz wie nach Timothy Learies großem Diktum: "Turn on, tune in, drop out". Psychedelische Drogen können das Gebäude unserer Konditionierungen in die Luft sprengen und uns aus dem Rahmen gesellschaftlich erwünschten Handelns herausreißen, sie können uns so erschüttern, dass wir nicht mehr zurück zu einer Person finden, die wir selber sind, und psychiatrische Behandlung nötig haben.

Natürlich bleibt es nicht bei diesem einen "versehentlichen" Trip, viel öfter geht Joel Agee später noch auf die Reise in die Gefilde des Geistes und dessen, was wir Ich zu nennen pflegen. Joel heiratet seine geliebte Susan, bekommt eine Tochter, welche die beiden Gina nennen - und das alles ist ja doch noch kein Zuhause! Die drei verschlägt es nach London, Ibiza, in die Schweiz zum im Zelt predigenden Krishnamurti, zeitgerecht sind sie in einem Volkswagenbus unterwegs, den sie zwar kaufen aber nicht fahren können und sind so auf die Künste Gleichgesinnter, die ihre Wege kreuzen, angewiesen. Es ist die große Zeit der Hippies, jener jungen Menschen, die gegen den Krieg in Vietnam waren, innovative Musik hörten und oder machten, die mit Drogen ungezwungen experimentierten und keine Lust auf "40 Jahre Büroarbeit" (Krishnamurti) hatten. Es ist die kurze Zeit der Hippies, da das Leben zwar von Freiheiten gekrönt werden kann, aber doch seine bitteren Notwendigkeiten einfordert - früher oder ein wenig später. Denn wo sind sie heute, die Hippies?

Gina und Susan sind allein in die USA zurückgekehrt, während Joel sich auf den Weg macht, sich ganz zu verlieren. Er landet in London, hält sich für Gott - wie könnte er das nicht, hat ihm das LSD doch gezeigt, dass er sich seine Welt selbst erschafft; wird seines Volkswagens verlustig, findet sich im Gefängnis wieder, aber noch lange keine klaren Gedanken. Drop out.

"Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein." (Nietzsche). So machen sich die Gedanken selbständig. In einen noch tieferen Abgrund als Joel ist der kränkliche und außerordentlich talentierte Bruder Stefan gefallen. Die Ärzte haben ihm Schizophrenie diagnostiziert. Schon einmal hat er sich aus dem Fenster gestürzt, das zweite Mal wird er nicht überleben. Ein asketischer, buddhistischer Mönch war sein Leitbild. Nur Joel hat schließlich seinen Weg ins Leben gefunden - indem er seinen innerlich wahrgenommenen Widerpart besiegte und sich seiner Ängste stellte. Welcher Ängste eigentlich?

Diese Rezension schrieb:
Arne-Wigand Baganz (2010-02-10)

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