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Ukraine  Eine Reise durch die Ukraine in 113 Gedichten  Ukraine

Was Du im Winter in Berlin machst

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Schnee

Bei diesem Wetter möchtest Du nicht draußen sein: Es ist abends, das Thermometer, das Du gar nicht besitzt, weil Du die Temperatur immer von Deinem Telefon abliest, zeigt sieben Grad im Minusbereich an, aber durch den Wind wirkt es deutlich – um nicht zu sagen unheimlich – kälter. Es ist ein ganz gemeiner Wind, der Dich fortwährend anspringt, der Deine Wangen auspeitscht, so dass sie ganz rot werden, und der von oben in Deine Jacke schlüpft, obwohl Du extra einen Halsschlauch trägst, und der auch von unten durch die Hose kommt, weil Dir die Hosenbeine nicht eng genug am Körper anliegen. Du frierst und gehst schneller, damit es Dir bald wärmer wird, aber das ist gefährlich, denn die vom Schnee weißen Wege sind oft breitflächig und böse vereist und größtenteils gar nicht gestreut, so dass Du damit zu tun hast, Dich auf den Beinen zu halten. In Deiner Wohnung sparst Du an der Heizung, weil es nicht nur gut für das globale Klima und Deinen Geldbeutel ist, sondern auch, da Du die ruchlosen Rohstoffdiktaturen nicht mehr als unbedingt nötig unterstützen magst. Wenn Du in sie zurückkommst, wirst Du eine ganze Zeit lang denken, wie schön warm es in ihr ist – obwohl es ja überhaupt nicht so warm in ihr ist. Jetzt aber bist Du draußen in der Kälte und sehnst Dich in diese ziemlich kalte Wohnung zurück.

Du bist auf dem Weg in einen Supermarkt, weil Du ein paar Lebensmittel benötigst, und kommst an einer Spelunke vorbei, die auf dem Schild an ihrer Fassade einen seltsamen Namen trägt, sodass Du Dich gar nicht entscheiden kannst, ob sie von Vietnamesen oder Ägyptern geführt wird. Gibt es überhaupt Ägypter, die einen Saufstall betreiben? Gut, dann werden es wohl Vietnamesen sein.
Die Rollläden des Etablissements sind heruntergelassen, aber durch die Ritzen scheint warmes, dunkelgelbes Licht und man hört, dass drinnen Betrieb ist. Sie saufen. Als Du einige Kleidungsstücke vor dem Laden siehst, erinnerst Du Dich, gerade an einem Lumpensammler vorbeigekommen zu sein, der aufgebrochen worden ist. Die hier verstreute Kleidung stammt wohl auch aus ihm. Du schaust genauer hin und erkennst eine dunkelblaue Isomatte, dann eine zweite. Ein paar traurige Habseligkeiten stehen daneben in Stoffbeuteln, wie man sie zum Einkaufen benutzt. Auf der einen Isomatte siehst Du einen kleinen Menschen höchstwahrscheinlich männlichen Geschlechts schlafen. Er bewegt sich nicht. Du verstehst, warum er sich auf das in den Bürgersteig gesenkte, vom Rost braune Metallgitter, das ein Kellerfenster versperrt, gelegt hat: Wahrscheinlich strömt warme Luft aus dem Keller! Du gehst weiter, weil die anderen Menschen auch weitergehen, aber das Herz zerbricht Dir, da Du immer wieder an den auf der Straße Schlafenden denken musst. Vielleicht will er gar nicht wieder aufwachen, versuchst Du Dich zu beruhigen, weil sein Leben ohnehin die Hölle geworden ist?

Du kommst im Supermarkt an, Du machst Deinen kleinen Einkauf, findest ein Stück Schokolade im Angebot von einem Hersteller, den Du eigentlich boykottieren müsstest, weil er nach wie vor seine schmutzigen Geschäfte in Russland macht und damit der dort auf Hochtouren laufenden Kriegs- und Vernichtungsmaschine hilft.
Der Verkäufer hat eine verdammt schlechte Laune, weil er, wie er an der Kasse sitzend den Kunden mehrfach erklärt, auch morgen arbeiten muss, da der erste Advent zu seinem tiefstem Unglück verkaufsoffen ist. Schon beim Betreten des Supermarktes schaut Dich der Kassierer vernichtend an und denkt sich: Noch so ein blödes Arschloch, das hier einkaufen will!

Du willst dem Typen also lieber aus dem Weg gehen, indem Du Dich an einen der fünf Kassenautomaten stellst, an die sich hier niemand von den Kunden wagt, aber Du machst einen Fehler in der Bedienung und kannst ihn nicht rückgängig machen, weil der Betrag das Stornolimit übersteigt. Der übel gelaunte Kassierer hilft Dir nicht, also stellst Du Dich an die inzwischen länger gewordene Schlange an und bezahlst schließlich Deinen Kram bei ihm.

Auf dem Weg nach draußen kommst Du an einem bereits geschlossenen Bistro vorbei und siehst einen Penner, wie er dort in dessen Sitzbereich auf einem Holzstuhl an einem Holztisch in sich zusammengefallen ist und den dummen Schlaf der hemmungslos Berauschten schläft. Du schaust ihn Dir etwas genauer an. Er trägt dicke, wattierte dunkle Kleidung, sein Gesicht sieht aus wie ein verdorbener Pfannkuchen, seine schwarzen Haare sind speckig und seit Jahrhunderten nicht mehr gewaschen worden. Neben seinem Kopf stehen ein leerer Handschmeichler (Fassungsvermögen: 0,2 Liter) und der dazugehörige goldene Schraubverschluss, natürlich abgedreht. In der Flasche siehst Du ein paar letzte braune Tropfen und Du fragst Dich, wann es eigentlich in diesem Land angefangen hat, so kalt zu werden – und warum.

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