In der Geschichte der Menschheit ist es vermutlich eher die Regel als die
Ausnahme, dass sich eine Ideologie auf bestimmten Gebieten – und dabei
denke ich gar nicht unbedingt an Geographie – zur herrschenden
emporschwingt und dann vom Gipfel der Macht herab jeden Konkurrenten
wegstößt, der es wagt, sich auch nur anzunähern. Offener Widerspruch,
vielleicht sogar noch aus einer emotionalen Lage heraus, wird unter der
Vorherrschaft einer Ideologie schnell zum Selbstmord, weil man ihr allen
Anlass gibt, dass sie einen ermordet. In vielen von Menschen geschaffenen
Systemen hat man sich homodox zu geben – oder zumindest zu schweigen.
Offene Rebellion macht meist erst Sinn, wenn die Gegner der herrschenden
Ideologie heimlich ein solidarisches Band untereinander geflochten und so
eine gewisse Stärke gewonnen haben, mit der sie in Auseinandersetzungen
bestehen können. Solange man allein oder vereinzelt steht, kann das Säen
von Zweifeln eine geeignete Methode sein, die Ideologie zu untergraben. Oft
reicht hierbei das geschickte Stellen genau solcher demaskierender Fragen,
auf welche die Ideologie nicht anders als unzufriedenstellend antworten
kann – bei denen sie also gezwungen ist, ihre geistige Nacktheit zur Schau
zu stellen, wenn sie es trotzdem versucht. Ein derartiges Fragemanöver kann
natürlich auch von Vertretern der herrschenden Ideologie durchschaut und
mit Aggressionsakten beantwortet werden. Das Opfer, welches der
Widersprechende erbringt und zu welchem er wird, indem ihn die Ideologen
für seine Heterodoxie bestrafen, musst nicht umsonst sein, wenn es gelingt,
die Vorgänge für möglichst viele andere Menschen innerhalb des
entsprechenden Systems transparent und publik zu machen; so zeigt die
herrschende Ideologie ihre gemeine Fratze und man darf gerade wegen des am
Opfer statuierten Exempels zweifeln, ob sie tatsächlich für das Gute, das
Menschliche, das Gerechte, den Fortschritt, allgemeinen Wohlstand, die
Nation usw. usf. eintritt oder nicht doch nur sich selbst dient und auf
grundfalschen Annahmen beruht, also letztlich nicht legitimierbar ist.
Manchmal erscheint ein Kampf gegen eine Ideologie aussichtslos. Die einen
mögen ihre Herrschaft am liebsten aussitzen und stecken die Köpfe in den
Sand, andere ergreifen die Möglichkeit der Flucht, wenn diese sich bietet,
und begeben sich in einen anderen Herrschaftsbereich; der Rest ist Diener
oder Priester.
Gewissheiten zersplittern schneller als man üblicherweise denkt.
“Zersplitternde Gewissheiten” – das ist der Titel eines Cioran-Lesebuches.
E. M. Cioran war ein Verführer, bei ihm steht erhellende Genialität oft
neben düsterem Stumpfsinn, geschöpft aus tiefer Depression, wenn man
wollte, könnte man seine Schriften mit Rauschgift vergleichen: Sie
ermöglichen einesteils wunderbare Räusche, sind andernteils aber auch
gefährliches Gift.
Man muss vorsichtig – und das heisst hier vor allem: kritischen Geistes –
damit umgehen.
Was kann uns Cioran im Kampf gegen eine Ideologie raten?
\"Man kann jede Wahrheit ertragen, sei sie noch so zerstörerisch, sofern
sie für alles steht und soviel Vitalität in sich trägt wie die Hoffnung,
die sie ersetzt hat.\"
Es reicht demnach unglücklicherweise nicht, dass die Wahrheit, die ihren
Platz unter den Menschen einfordert, wahr ist; sie muss sich vor allem auch
als kräftiger und damit besser als die Lüge erweisen und deren vormaligen
Platz restlos ausfüllen.
Für eine gewisse Zeit mag ihr das recht gut gelingen, aber stark ist die
Lüge: stets bereit, zurückzukommen. Und sie kommt zurück, eines Tages kommt
sie immer als Herrscherin zurück, leicht verwandelt, vielleicht mit
umgenähten Kleidern, andersfarbigem Lippenstift, einer neuen Perücke – und
dann muss die Wahrheit erneut wie der Stein des Sisyphos den Berg hinauf
zum Gipfel der Macht geschoben werden: behutsam, klug und vor allem nicht
von einem allein, sondern solidarisch-geeint.
Geschrieben am 26. Todestag von E.M. Cioran