«Wie aber ist das Böse in die Welt gekommen», fragte sich der neuplatonische Philosoph Salustios im vierten
Jahrhundert, «wo doch die Götter gut sind und die Ursache aller Dinge?». Selbst wenn viele der jetzt lebenden Menschen nicht mehr an Götter und
auch nicht an einen Gott glauben, so stellen sie sich angesichts der schädlichen und
schändlichen Dinge, die andere Menschen und vielleicht gar sie selbst
anrichten, genau diese alte Frage: «Wie aber ist das Böse in die Welt gekommen?» – und wir können religionsneutral ergänzen: «Wo doch das Leben gut sein soll!».
Kein Begriff will allein sein
Man mag Begriffe wie das Gute und das Böse als vorgestrigen Ballast abtun,
die in der von der Wissenschaft regierten postmodernen Welt nicht als
Währung zählen, aber es ist nun einmal so, dass wir Menschen Begriffe
nutzen, um mit deren Hilfe mit anderen Menschen zu kommunizieren und unsere
eigene Existenz zu ordnen. Sobald wir einen Begriff zulassen, werden wir
sehen, dass wir weitere benötigen, bis wir einen ganzen Begriffsapparat
beisammen haben. Ich könnte beispielsweise sagen: Ich lasse nur den Begriff
“Leben” zu, aber damit lässt sich nicht viel anfangen und ich merke sofort
den Mangel, denn zum Leben gehört auch der Tod, und dann fehlt natürlich
die Geburt. Schnell werde ich Sein, Werden und Vergehen ergänzen und habe
damit bereits sechs Begriffe an der Hand. Dann fällt mir vielleicht auf,
dass ich nun zwar über einen grundlegenden ontologischen Wortschatz
verfüge, ich aber als fühlendes und wertendes Wesen nicht in der Lage bin,
damit Qualitäten auszudrücken, also eigne ich mir weitere Begriffe an, denn
ein Leben kann gut oder schlecht sein, Objekte und Subjekte schön oder
hässlich usw. usf.; aber auch damit bin ich noch lange nicht zufrieden,
denn jetzt frage ich mich, wie es kommt, dass das Leben gut oder schlecht
sei, und werde nach Begriffen wie Glück, Leid, Schmerz und ähnlichen
suchen.
Ich werde das Schema an dieser Stelle nicht weiter ausführen, es sollte
offenbar geworden sein, wie Begriffe nach weiteren Begriffen verlangen,
damit wir unsere Lebensrealität mit ihnen beschreiben können.
Einfach passende Begriffe
Die grundlegenden Begriffe, von denen ich bereits einige genannt habe, und
zu denen neben Gut und Böse auch Licht und Dunkel gehören, haben eine so
starke Wirkungskraft, wenn wir sie gebrauchen, weil sie äußerst eindeutig,
geradezu transluzent sind und daher fast jeder ein sehr genaues Verständnis
von ihnen hat. Mit Begriffen wie “lineares Wachstum” oder “Extrapolation”
sieht das schon ganz anders aus; deswegen sind erweiterte grundlegende
Begriffe wie “Das Reich des Bösen”, mit dem Ronald Reagan einst die
Sowjetunion bezeichnete und der nach wie vor auf das heutige Russland
zutrifft, so eingängig: Sie scheinen mit der von uns wahrgenommenen
Wirklichkeit übereinzustimmen, sie passen wie der Hammer auf den Nagelkopf,
wir brauchen erst einmal nicht nach weiteren Begriffen suchen, welche den
Sachverhalt noch näher erklären.
Das Licht wird die Dunkelheit besiegen
Religionen, Künstler und auch Politiker bedienen sich immer wieder der
grundlegenden Begriffe, weil sie ihr Publikum effektiv damit ansprechen
können. Es ist kein Zufall, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr
Selenskyj im Frühjahr 2022 nach der russischen Totalinvasion die folgenden
Worte wählte, die es im ukrainischen Original sogar auf das Cover des
Time-Magazins (March 14 / 21 2022) geschafft haben:
Zitat: Das Leben wird den Tod besiegen.
Das Licht wird die Dunkelheit besiegen.
Das ist eine Sprache, die uns zutiefst berührt, weil sie einfach und
treffend ist. Es sind Worte des Glaubens und der Hoffnung, und wer betet
nicht, dass sie zudem Worte der Wahrheit sind?
Auch Buddha, Moses oder Jesus hätten so zu uns sprechen können.
Natürlich ist die Wirklichkeit immer komplexer, als wir sie mit unseren
Begriffen darstellen können, aber es ist durchaus legitim, grundlegende
Begriffe zu verwenden, wenn man die Mehrung des Menschheitswohles nicht nur
im Sinn hat, sondern auch real-praktisch dazu beiträgt. Die grundlegenden
Begriffe sind so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner einer
Kulturgemeinschaft. Mit ihnen können Menschen motiviert werden; aber
selbstverständlich können sie in Diktaturen wie der russischen auch
missbräuchliche Verwendung finden.
Etwas ist wahr, nicht alles ist erlaubt
Wir wollen nicht wie in Nietzsches Zarathustra zu uns sprechen: «Nichts ist wahr, alles ist erlaubt», denn wir wissen, dass es Wahrheit und Lüge gibt und auch, dass nicht
alles erlaubt ist, weil wir nicht allein auf der Welt sind, sondern eine
Umwelt um uns herum haben: Natur, Pflanzen, Tiere und andere Menschen, die
alle Rechte besitzen; deshalb ist auch nicht allein das “wahr”, was uns
selbst am meisten nützt. Uns selbst zu beschränken kann das Gesamtwohl der
Welt, in welcher wir leben, fördern.
Kommen wir zu der eingangs von Salustios gestellten Frage zurück: «Wie aber
ist das Böse in die Welt gekommen?» – und schauen uns seine Antwort an, die
ich nachfolgend im Volltext wiedergebe*. Nach Salustios können wir weder die Götter, noch den Verstand, die Seele
oder den Körper für die Existenz des Bösen verantwortlich machen, auch
nicht Kombinationen von diesen oder gar Dämonen. Nichts in der Welt, sagt
er, ist von Natur aus böse – und das scheint mir auch heute noch eine wahre
Feststellung zu sein. Weder Hitler, noch Stalin oder Putin sind als
diejenigen geboren worden, als welche sie der Welt dauerhaft in Erinnerung
bleiben, erst sie selbst haben sich in der Wechselwirkung mit ihrer Umwelt
zu jenen gemacht, die wir heute zutiefst verabscheuen. Als Menschen haben
wir immer eine Wahl. Hitler, Stalin und Putin haben ihre Wahlen getroffen –
genau wie die anderen Menschen, die der ersteren Wirken nicht verhindert,
sondern ermöglicht und sogar mitgetragen haben.
Salustios ist sich sicher, dass das Böse erst durch die Tätigkeit des
Menschen in der Welt erscheint – aber genauso, und das sagt er nicht
selbst, wird es auch durch Untätigkeit hervorgerufen. Was nun absolut böse
ist, kann sich dem Täter allerdings als relatives Gutes darstellen, und das
wird in dem Zitat auch durch Beispiele wie dem Ehebruch, der zum Lustgewinn
führt oder dem Mord, der jemandem Reichtum verschafft, veranschaulicht.
Eigentlich wollen alle immer nur das Gute, zumindest für sich, aber dieses
Gute ist nur ein relatives, wie gesagt, kann es absolut betrachtet ein
Böses sein, wenn es die Rechte von anderen, beispielsweise das auf
Unversehrtheit, verletzt.
Kultur schützt vor Barbarei
Was nun kann uns vor dem Bösen bewahren? Kurz gesagt ist es allein die
Kultur, welche als äußerst verletzliche Haut Zivilisation von Barbarei
trennt. Dort, und hiermit gehe ich über Salustios hinaus, wo die Kultur
vernachlässigt wird und verfällt, nähern wir uns der Barbarei, weil beide
einander ausschließen. Der Niedergang der Kultur, die in die Barbarei
umschlägt, erfolgt nie in einem einzigen Zug, wenn wir einmal von extremen
Katastrophen wie bspw. dem damaligen Klimawandel absehen, der wohl den
Erhalt von Angkor Wat unmöglich gemacht hat, sondern, wie die Geschichte
immer wieder gezeigt hat, schrittweise. Um aus einer Demokratie eine
Diktatur zu machen, müssen erst eine Menge Freiheiten beschnitten und
schließlich ganz abgeschafft werden; auch Massenmorde brauchen ein wenig
Vorlauf, in der Regel massive Propaganda und erste physische
Grenzüberschreitungen, deren Intensität dann gesteigert wird, die den
Ausführenden und Duldenden schließlich zu einer neuen Normalität werden.
Die Kultur erschaffen wir Menschen natürlich selber, sie ist uns nicht, wie
Salustios schreibt, durch die Götter gegeben. Jeder einzelne von uns ist
für sie verantwortlich.
Was ist der positive Ausblick, wenn es einen gibt?
Jeder Mensch ist fehlbar, und es ist unmöglich, in einem langen oder
kürzeren Leben nur Gutes zu tun; aber wenn wir sie einsehen und bekennen,
kann unsere Schuld zumindest ein wenig gemindert werden. Es ist allerdings
an jenen, die wir geschädigt haben, uns zu vergeben. Moralische Sprüche
sehen oft unheimlich platt aus, man hat sie so oder ähnlich unzählige Male
gehört, dennoch müssen sie hin und wieder erneut gesagt werden; deswegen
erlaube ich mir abschließend, Elie Wiesel zu paraphrasieren:
Wenn wir uns selbst bessern, bessern wir die ganze Welt.
Hier nun abschließend die kurze Abhandlung von Salustios:
Woher das Böse kommt, und warum es von Natur aus kein Böses gibt
Zitat: Zuerst müssen wir festhalten, daß, da die Götter gut und die Urheber aller Dinge sind, das Böse keine Natur hat, sondern durch die Abwesenheit des Guten hervorgebracht wird, gleichwie die Finsternis an sich nichts ist, sondern durch Fehlen des Lichts hervorgebracht wird. Wenn aber das Böse ein Sein hat, so muss es notwendigerweise entweder in den Göttern oder im Verstand, in den Seelen oder Körpern existieren; aber es kann nicht in den Göttern existieren, da jeder Gott gut ist. Und wenn jemand sagt, der Verstand sei böse, so muß er zugleich behaupten, der Verstand sei des Verstandes beraubt; wenn es aber die Seele sein soll, so muß er behaupten, die Seele sei schlechter als der Körper; denn jeder Körper ist, für sich betrachtet, ohne Übel. Wenn sie aber behaupten, das Böse bestehe aus der Verbindung von Seele und Körper, so ist es gewiss absurd, dass Dinge, die einzeln betrachtet nicht böse sind, durch ihre Verbindung miteinander böse werden sollen. Wenn aber jemand sagt, die Dämonen seien böse, so entgegnen wir, wenn sie ihre Macht von den Göttern haben, so seien sie nicht böse; wenn aber von etwas anderem, so sind die Götter nicht die Urheber aller Dinge; und wenn die Götter nicht alle Dinge hervorbringen, so sind sie entweder willig, aber nicht fähig, oder sie sind fähig, aber nicht willig; aber keines von beiden kann mit Recht einem Gott zugeschrieben werden.
Daraus geht hervor, dass nichts in der Welt von Natur aus böse ist, aber durch die Tätigkeiten der Menschen erscheint, allerdings nicht durch alle von ihnen und auch nicht immer, das Böse. Wären nämlich die Menschen durch das Böse selbst schuldig, so wäre die Natur selbst böse; wenn aber derjenige, der Ehebruch begeht, den Ehebruch als böse, die damit verbundene Lust aber als gut ansieht; wenn derjenige, der sich eines Mordes schuldig macht, die Tötung als böse, den aus der Tat resultierenden Reichtum aber als gut ansieht; und wenn derjenige, der seinen Feinden Verderben bringt, das Verderben als böse, die Rache an einem Feind aber als gut ansieht; so sind die Seelen auf diese Weise schuldig; daher wird das Böse durch das Gute hervorgebracht, so wie bei Abwesenheit des Lichts die Finsternis hervorgebracht wird, die zugleich in der Natur der Dinge keinen Bestand hat.
Die Seele wird also schuldig, weil sie das Gute begehrt, aber sie schleicht irrend um das Gute herum, weil sie nicht die primäre Wesenheit ist. Damit sie aber nicht umherirrt, und wenn sie es doch tut, die richtigen Mittel zur Anwendung gebracht werden, sie wiederherzustellen, haben die Götter viele Dinge hervorgebracht; denn Künste und Wissenschaften, Tugenden und Gebete, Opfer und Einweihungen, Gesetze und Ordnungen, Urteile und Strafen wurden erfunden, um die Seelen davor zu bewahren, in Schuld zu fallen; und selbst wenn die Seelen den diesseitigen Körper verlassen, werden sie durch sühnende Götter und Dämonen von der Schuld gereinigt.
* Die deutsche Übersetzung erfolgte durch mich nach dem englischen Text von Thomas Taylor.