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Sergej Jessenin: Heimatland von weißem Leichentuch verhüllt

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Der junge Dichter Sergej Jessenin liest (1914)

Über Leben und Werk des tragischen russischen Dichters Sergej Jessenin und der Versuch, die Frage zu beantworten, warum ich mich gerade in diesen Zeiten noch einmal mit ihm beschäftigt habe

Liest man den russischen Dichter Sergej Jessenin (1895–1925), so liest man nicht bloß seine Texte, man liest sein Leben. Auf frühen Fotografien, gemacht, da war er vielleicht oder 18 oder 19 Jahre alt, begegnet uns der liebe Sergej noch als Engel, der zauberhaft fremd von den ihn umgebenden Menschen absticht, wir sehen sein lockiges Haar, seinen unheimlichen weichen, verträumten Blick, die wässrig melancholischen Augen, die gar nicht in die gleiche Welt schauen, die wir Normalsterbliche sehen und miteinander teilen. Dieser Sergej scheint zart zu sein wie eine Rose, die zu keiner Sorte gehört, sondern ein Unikat ist – und als nachgeborene Leser wissen wir, wann auch immer wir ein Gedicht von Sergej lesen, um ihr schließlich trauriges Verwelken: Da gibt es dieses Bild des Dichters, wie er nach seinem Suizid durch Erhängen im Hotel Angleterre in Leningrad auf einem Bett liegt, den Kopf leicht erhöht, das aufgeschwemmte Gesicht gleichsam voll tiefstem Schmerz und höchster Anmut. Es ist ein schauerlich-bewegender Anblick, die Quintessenz seiner Dichtung, seines Lebens.

Schönheit und Traurigkeit
Die Gedichte und das Leben von Sergej Jessenin sind Zeugnisse vielfacher Tode: des Friedens, des Zarenreiches, alter Traditionen wie der Religion, der Freiheit. Der Dichter wurde 1916 eingezogen, nahm am großen Schlachten des 1. Weltkrieges zuerst nur in einem Medizinzug dienend teil. Die Kaiserin Alexandra Fjodorowna ist bei einer Rezitation zweier seiner Gedichte anwesend und teilt Jessenin anschließend mit, dass diese schön aber traurig seien. Er antwortet, dass man das gleiche von Russland sagen könne …
Im heutigen Russland sehe ich keine Schönheit, nicht einmal Traurigkeit, auch wenn mich das Land traurig stimmt, ich sehe nur seine endlosen Lügen, seine hemmungslose Gewalt, seine grenzenlose Barbarei, die Verblendung, die Ignoranz, die Feigheit einer großen Anzahl seiner Bewohner.

Des Dorfes letzter Dichter
Zurück in die Vergangenheit: Jessenin erlebt den Zusammenbruch des Zarenreiches, den kurzen Hauch der Demokratie, den bolschewistischen Umsturz, den Bürgerkrieg, den roten Terror und die rote Diktatur. Er sieht sich selbst als des “Dorfes letzten Dichter”, wie er in einem Marienhof gewidmeten Gedicht schreibt. Das ist er sicherlich gewesen. Die neuen Machthaber bedrängen ihn, er versucht, sich anzupassen. Die entsprechenden literarischen Arbeiten wirken bemüht, vielleicht sogar gequält – sie scheinen ihm zu widerstreben. Nur wenig sowjetischer Schatten liegt auf Jessenins Werk – wie beispielsweise das Poem zum Tode Lenins. Jessenin lebt ein Leben ohne Halt und Heimat: Er sinkt tiefer und tiefer in den Alkoholismus, späte Fotografien zeigen sein merklich aufgedunsenes Gesicht, obwohl er noch nicht das 30. Lebensjahr vollendet hat. Die Welt, in der Jessenin aufgewachsen ist, gibt es nicht mehr – und wenn wir selbst danach suchen, finden wir sie nicht einmal in seinen frühen Gedichten, denn diese sind nur schöne Vergeistigungen, erschaffen in Traumhimmeln, die Jessenin über die karge heimatliche Wirklichkeit gebreitet hat.

Das ganze Elend Russlands
Wenn ich an Jessenins Gedichte denke, denke ich vor allem an Birken, Schnee, Monde und Hunde; natürlich auch an innige Männerfreundschaften, die wir heute sicherlich als homosexuelle Bindungen einstufen dürfen, schwierige, stets wechselnde Frauengeschichten, andauernde Lebensmüdigkeit und grassierenden Alkoholismus – schließlich auch an das ganze Elend Russlands.
Ich habe einmal ein paar Tonaufnahmen von Jessenin gehört, die mich erschütterten, weil sie so gar nicht zu dem Bild passen wollten, das ich mir von dem Dichter gemacht hatte. Vermutlich hatte ich erwartet, das Säuseln eines kleinen Engels zu hören, stattdessen vernahm ich hinter dem vielen Knacken und Rauschen der alten Aufnahmen das betrunkene Deklamieren eines räudigen Straßenhundes, das theatralisch-tiefe Grollen eines russischen Bauern, der seine Männlichkeit beweisen will, das Zerbrechen riesiger schwarzer Erdschollen.

Das Leben lesen
Wie ich eingangs sagte: Man liest, wenn man Jessenin liest, immer auch dessen Leben – und zwar zwangsläufig wie ein Voyeur aus sicherer Entfernung. Dieses Leben fängt stets auf einer von Mondlicht überfluteten Weide an und endet mit dem letzten Gruß an den in das Herz geschlossenen Freund, geschrieben im eigenen Blut.
Jessenins Leiden können einem wenig anhaben – aber sie berühren einen doch, wie ein Kunstwerk einen berühren kann. Leider kann man diesen Menschen nicht mehr retten, so wenig, wie man Russland retten kann. Die Ukraine kann man retten, Russland nicht – und wie ich schon häufiger schrieb: Wenn gewisse Kunstwerke aus Leiden geboren sind, so wäre es mir immer lieber, es hätte die Leiden und damit auch die Kunstwerke nie gegeben.

Ein Text zur Unzeit
Dieser Text über Jessenin erscheint sicherlich zu einer Unzeit: Warum jetzt überhaupt über einen russischen Dichter sprechen, wenn es gar nicht darum geht, zu zeigen, wie sich der russische Imperialismus in seinem Werk widerspiegelt? Ich gebe zu, dass ich seit dem Februar 2022 kaum noch etwas anrühren mag, das aus Russland kommt – auf der Straße zucke ich regelrecht zusammen, wenn ich Leute Russisch sprechen höre und versuche zu erraten, was das für welche sind, vielleicht ja nur geflüchtete Ukrainer, aber seltsamerweise war es gerade Jessenin, nach dem ich irgendwann griff. Eine Erklärung dafür habe ich nicht – aber ich weiss, wenn ich mich von allen russischen Dichtern trennen müsste und nur einen behalten dürfte, dann wäre es ganz sicher Jessenin. Und wenn ich mir doch irgendeine halbwegs sinnhaltige Erklärung abringen müsste, warum ich vor ein paar Monaten eben zu Jessenin griff, dann vielleicht die, dass ich im Dichter offenbar nach dem Staatsgebilde suchte und schließlich wohl nichts dagegen hätte, wenn Russland als Land, dessen Wesenskern von alters her die Bösartigkeit gegen seine Nachbarn ist, das Ende Jessenins wählte und sich eines Nachts einfach an seinem eigenen Ärmel an einem Fensterkreuz erhängte. Es müsste damit auch nicht bis Ende Dezember warten.
Das ist natürlich eine hyperbolische Konstruktion, gefällt mir aber als vorläufiger Abschluss meines Textes, der nun tatsächlich mit einem kurzen Gedicht Jessenins enden darf:

Zitat:

Schneebedeckte Weite, weiß des Mondes Schild,
Heimatland von weißem Leichentuch verhüllt.
Birken, weiß im Walde, weinen bitterlich.
Wer ist hier gestorben? Bins am Ende ich?

Übersetzung: Walter Fischer


Veröffentlicht am 08.07.2022

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