Liest man den russischen Dichter Sergej Jessenin (1895–1925), so liest man
nicht bloß seine Texte, man liest sein Leben. Auf frühen Fotografien,
gemacht, da war er vielleicht oder 18 oder 19 Jahre alt, begegnet uns der
liebe Sergej noch als Engel, der zauberhaft fremd von den ihn umgebenden
Menschen absticht, wir sehen sein lockiges Haar, seinen unheimlichen
weichen, verträumten Blick, die wässrig melancholischen Augen, die gar
nicht in die gleiche Welt schauen, die wir Normalsterbliche sehen und
miteinander teilen. Dieser Sergej scheint zart zu sein wie eine Rose, die
zu keiner Sorte gehört, sondern ein Unikat ist – und als nachgeborene Leser
wissen wir, wann auch immer wir ein Gedicht von Sergej lesen, um ihr
schließlich trauriges Verwelken: Da gibt es dieses Bild des Dichters, wie
er nach seinem Suizid durch Erhängen im Hotel Angleterre in Leningrad auf
einem Bett liegt, den Kopf leicht erhöht, das aufgeschwemmte Gesicht
gleichsam voll tiefstem Schmerz und höchster Anmut. Es ist ein
schauerlich-bewegender Anblick, die Quintessenz seiner Dichtung, seines
Lebens.
Schönheit und Traurigkeit
Die Gedichte und das Leben von Sergej Jessenin sind Zeugnisse vielfacher
Tode: des Friedens, des Zarenreiches, alter Traditionen wie der Religion,
der Freiheit. Der Dichter wurde 1916 eingezogen, nahm am großen Schlachten
des 1. Weltkrieges zuerst nur in einem Medizinzug dienend teil. Die
Kaiserin Alexandra Fjodorowna ist bei einer Rezitation zweier seiner
Gedichte anwesend und teilt Jessenin anschließend mit, dass diese schön
aber traurig seien. Er antwortet, dass man das gleiche von Russland sagen
könne …
Im heutigen Russland sehe ich keine Schönheit, nicht einmal Traurigkeit,
auch wenn mich das Land traurig stimmt, ich sehe nur seine endlosen Lügen,
seine hemmungslose Gewalt, seine grenzenlose Barbarei, die Verblendung, die
Ignoranz, die Feigheit einer großen Anzahl seiner Bewohner.
Des Dorfes letzter Dichter
Zurück in die Vergangenheit: Jessenin erlebt den Zusammenbruch des
Zarenreiches, den kurzen Hauch der Demokratie, den bolschewistischen
Umsturz, den Bürgerkrieg, den roten Terror und die rote Diktatur. Er sieht
sich selbst als des “Dorfes letzten Dichter”, wie er in einem Marienhof
gewidmeten Gedicht schreibt. Das ist er sicherlich gewesen. Die neuen
Machthaber bedrängen ihn, er versucht, sich anzupassen. Die entsprechenden
literarischen Arbeiten wirken bemüht, vielleicht sogar gequält – sie
scheinen ihm zu widerstreben. Nur wenig sowjetischer Schatten liegt auf
Jessenins Werk – wie beispielsweise das Poem zum Tode Lenins. Jessenin lebt
ein Leben ohne Halt und Heimat: Er sinkt tiefer und tiefer in den
Alkoholismus, späte Fotografien zeigen sein merklich aufgedunsenes Gesicht,
obwohl er noch nicht das 30. Lebensjahr vollendet hat. Die Welt, in der
Jessenin aufgewachsen ist, gibt es nicht mehr – und wenn wir selbst danach
suchen, finden wir sie nicht einmal in seinen frühen Gedichten, denn diese
sind nur schöne Vergeistigungen, erschaffen in Traumhimmeln, die Jessenin
über die karge heimatliche Wirklichkeit gebreitet hat.
Das ganze Elend Russlands
Wenn ich an Jessenins Gedichte denke, denke ich vor allem an Birken,
Schnee, Monde und Hunde; natürlich auch an innige Männerfreundschaften, die
wir heute sicherlich als homosexuelle Bindungen einstufen dürfen,
schwierige, stets wechselnde Frauengeschichten, andauernde Lebensmüdigkeit
und grassierenden Alkoholismus – schließlich auch an das ganze Elend
Russlands.
Ich habe einmal ein paar Tonaufnahmen von Jessenin gehört, die mich
erschütterten, weil sie so gar nicht zu dem Bild passen wollten, das ich
mir von dem Dichter gemacht hatte. Vermutlich hatte ich erwartet, das
Säuseln eines kleinen Engels zu hören, stattdessen vernahm ich hinter dem
vielen Knacken und Rauschen der alten Aufnahmen das betrunkene Deklamieren
eines räudigen Straßenhundes, das theatralisch-tiefe Grollen eines
russischen Bauern, der seine Männlichkeit beweisen will, das Zerbrechen
riesiger schwarzer Erdschollen.
Das Leben lesen
Wie ich eingangs sagte: Man liest, wenn man Jessenin liest, immer auch
dessen Leben – und zwar zwangsläufig wie ein Voyeur aus sicherer
Entfernung. Dieses Leben fängt stets auf einer von Mondlicht überfluteten
Weide an und endet mit dem letzten Gruß an den in das Herz geschlossenen
Freund, geschrieben im eigenen Blut.
Jessenins Leiden können einem wenig anhaben – aber sie berühren einen doch,
wie ein Kunstwerk einen berühren kann. Leider kann man diesen Menschen
nicht mehr retten, so wenig, wie man Russland retten kann. Die Ukraine kann
man retten, Russland nicht – und wie ich schon häufiger schrieb: Wenn
gewisse Kunstwerke aus Leiden geboren sind, so wäre es mir immer lieber, es
hätte die Leiden und damit auch die Kunstwerke nie gegeben.
Ein Text zur Unzeit
Dieser Text über Jessenin erscheint sicherlich zu einer Unzeit: Warum jetzt
überhaupt über einen russischen Dichter sprechen, wenn es gar nicht darum
geht, zu zeigen, wie sich der russische Imperialismus in seinem Werk
widerspiegelt? Ich gebe zu, dass ich seit dem Februar 2022 kaum noch etwas
anrühren mag, das aus Russland kommt – auf der Straße zucke ich regelrecht
zusammen, wenn ich Leute Russisch sprechen höre und versuche zu erraten,
was das für welche sind, vielleicht ja nur geflüchtete Ukrainer, aber
seltsamerweise war es gerade Jessenin, nach dem ich irgendwann griff. Eine
Erklärung dafür habe ich nicht – aber ich weiss, wenn ich mich von allen
russischen Dichtern trennen müsste und nur einen behalten dürfte, dann wäre
es ganz sicher Jessenin. Und wenn ich mir doch irgendeine halbwegs
sinnhaltige Erklärung abringen müsste, warum ich vor ein paar Monaten eben
zu Jessenin griff, dann vielleicht die, dass ich im Dichter offenbar nach
dem Staatsgebilde suchte und schließlich wohl nichts dagegen hätte, wenn
Russland als Land, dessen Wesenskern von alters her die Bösartigkeit gegen
seine Nachbarn ist, das Ende Jessenins wählte und sich eines Nachts einfach
an seinem eigenen Ärmel an einem Fensterkreuz erhängte. Es müsste damit
auch nicht bis Ende Dezember warten.
Das ist natürlich eine hyperbolische Konstruktion, gefällt mir aber als
vorläufiger Abschluss meines Textes, der nun tatsächlich mit einem kurzen
Gedicht Jessenins enden darf:
Zitat: Schneebedeckte Weite, weiß des Mondes Schild,
Heimatland von weißem Leichentuch verhüllt.
Birken, weiß im Walde, weinen bitterlich.
Wer ist hier gestorben? Bins am Ende ich?
Übersetzung: Walter Fischer