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Bruno Schulz: Bilder aus dem zerstörten Leben

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Selbstportrait von Bruno Schulz (1920/22)

Der dritte große jüdische Erzähler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Habsburger Wurzeln – neben Franz Kafka und Joseph Roth

Bruno Schulz (1892 – 1942) wurde in Drohobytsch (heute Ukraine) geboren und starb auch dort als Opfer des Holocaust. Sein Name ist einer, an dem ich schon oft vorbeigekommen bin, aber gelesen hatte ich bisher nichts von diesem Künstler. Vor einigen Jahren stand ich sogar schon vor einem Häuschen, in dem Bruno Schulz einmal gelebt hat, eine kleine Plakette wies auf diesen Umstand hin. Dass es in seiner ehemaligen Schule eine Art Museumszimmer gibt, das an ihn erinnert, habe ich erst im Nachhinein durch den Dokumentarfilm “Der letzte Jude von Drohobytsch” (2011) erfahren. Dieser Film ist absolut zu empfehlen, wie Bruno Schulz´ überlieferte Erzählungen berichtet er uns von einer untergegangenen Welt, weil die menschliche Evolution althergebrachte Lebensweisen unlebbar gemacht hat, aber auch, weil Deutsche und Russen weite Teile Osteuropas in “Bloodlands” (Timothy Snyder) verwandelten.

Es ist nicht vermessen, Bruno Schulz trotz seines schmalen Werkes in eine Reihe mit Franz Kafka und Joseph Roth zu stellen – jüdische Schriftsteller wie er, die ihre Wurzeln im zerfallenen Habsburger Reich hatten und großartiges in ihren Schriften leisteten.
Bruno Schulz´ Stil ist dabei ganz eigen: Opulent, überschäumend, bildreich und dabei logischerweise recht handlungsarm. Bruno Schulz malte seine literarischen Werke, und da in deren Bildern auch Bewegung ist, können wir uns den Autoren durchaus als schreibenden Zeichentrickkünstler vorstellen: Seine Erzählungen haben den Charakter von Cartoons, in denen phantastische Dinge passieren, und sind zuweilen doch so geistreich, als läse man eine philosophische Abhandlung. Entfernt verwandt erscheinen mir die Erzählungen Jorge Luis Borges´ zu sein, allerdings sind diese viel strenger konstruiert.

Bruno Schulz schrieb polnisch, das Übertragen seiner Werke ist aufgrund des hohen Sprachniveaus eine große Herausforderung. Dass man Schulz umbrachte und so das Entstehen weiterer Werke verhinderte, ist ein immenser Verlust für die Literaturgeschichte der Menschheit. Rein menschlich ist es selbstredend auch ein Verlust gewesen.

Abschließend zwei Textbeispiele aus den “Zimtläden” (1933, Original-Titel: “Sklepy Cynamonowe”) in der Übersetzung von Joseph Hahn:

Zitat:

Doch mein Vater hatte indes schon das Programm dieser zweiten Demiurgie und das Bild dieser zweiten Generation von Geschöpfen, die in offener Opposition zur herrschenden Epoche stehen sollte, entwickelt. »Es liegt uns nichts«, sprach er, »an Geschöpfen mit langem Atem, an Wesen auf lange Sicht. Unsere Kreaturen werden nicht die Helden vielbändiger Romane sein.
Ihre Rollen werden kurz und lapidar, ihre Charaktere - ohne weitere Pläne sein. Oft nur für eine Geste, für ein einziges Wort werden wir uns der Mühe unterziehen, sie für diesen einen Augenblick ins Leben zu rufen. Wir geben offen zu: wir werden keinen Nachdruck auf Dauerhaftigkeit und Güte der Ausführung legen, unsere Geschöpfe werden gleichsam provisorisch, für das eine Mal gemacht sein. Wenn es Menschen sein sollen, werden wir ihnen zum Beispiel nur eine Gesichtshälfte, einen Arm, ein Bein geben eben nur das, was sie für ihre Rolle brauchen. Es wäre Pedanterie, sich um das zweite Bein zu kümmern, das nicht zum Spiel gehört. Hinten können sie einfach mit Leinwand zugenäht oder geweißt werden. Unseren Ehrgeiz werden wir in folgende stolze Devise legen: Für jede Geste einen anderen Schauspieler. Zur Handhabung jedes Wortes, jeder Tat rufen wir einen anderen Menschen ins Leben.



Die Einfahrt eines Zuges in die “Krokodilgasse”:

Zitat:

Hin und wieder, zu unregelmäßigen Tageszeiten, irgendwann gegen das Wochenende, kann man eine Menschenmenge erblicken, die an einer Straßenbiegung auf den Zug wartet. Man ist niemals sicher, ob ein Zug kommt und wo er hält, und es geschieht häufig, daß sich die Leute an zwei verschiedenen Punkten aufstellen, weil sie ihre Ansichten über den Ort der Haltestelle nicht zu koordinieren vermögen. Sie warten lange und säumen als schwarze, schweigende Menge die kaum eingezeichneten Spuren der Gleise, die Gesichter im Profil, wie eine Reihe blasser Papiermasken, denen man die phantastische Linie des Starrens eingeschnitten hat. Und schließlich kommt er unerwartet angefahren, ist schon aus der Seitengasse, woher man ihn erwartete, eingebogen: geduckt wie eine Schlange, miniaturhaft, mit einer kleinen, schnaufenden, gedrungenen Lokomotive.


Veröffentlicht am 07.06.2022

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