August 2021: Ich verbringe wie schon gewohnheitsmäßig die schönsten Tage
des Jahres in der Ukraine. Fast alles ist perfekt: Das Land, das Wetter.
Und nein, liebe Skeptiker, ich gehe in diesem Land keinen dunklen Hobbies
nach, es bietet mir einfach eine wunderbare Mischung aus Reisen, Entdecken
und Genießen. Und ja – ich weigere mich, trotz des seit dem 24. Februar
2022 intensivierten Krieges Russlands gegen die Ukraine von allem im
Präteritum zu schreiben, auch wenn ich das Land seit dem 1. Januar 2022
nicht mehr besucht habe.
Dunkle Wolken im August
Nicht alles ist perfekt. In diesem letzten August schweben schon die
dunklen Wolken eines noch schlimmeren Krieges über der Ukraine. Russland
hatte im Frühjahr den Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze begonnen,
und im Sommer fingen die ukrainischen Behörden dann an, die
Luftschutzeinrichtungen in der Hauptstadt Kyjiw öffentlich auszuweisen und
legten den Bürgern nahe, sich mit den nächstgelegenen Zufluchtsorten
vertraut zu machen. Nicht jeder hat das damals ernst genommen. Vielleicht
folgte manch einer der Logik: “Unsere schöne Stadt scheint mir nicht für den russischen Bombenterror
gerüstet zu sein, also wird er auch nicht stattfinden”.
Ausflüge nach Tschernihiw und Slawutytsch
Zwei meiner Ausflugsziele in diesen Augusttagen des Jahres 2021 sind die
nördlich von Kyjiw befindlichen Städte Tschernihiw und Slawutytsch. Das an
der Desna gelegene Tschernihiw ist vor allem für seine alten orthodoxen
Kirchen bekannt, die Besonderheit des bereits knapp vor der belarussischen
Grenze liegenden Slawutytsch besteht darin, dass es die letzte Planstadt
der Sowjetunion ist; sie wurde als Ersatzstadt für die ehemaligen Bewohner
Tschornobyls im Jahr 1986 binnen weniger Monate in ein Waldstück gebaut.
Baubrigaden aus verschiedenen Sowjetrepubliken haben einzelne Viertel in
für sie typischen Bauweisen erbaut. Ich habe dazu bereits ein Buch gelesen
und mir in den Kopf gesetzt, unbedingt diese georgischen Freiluftgrills im
Hinterhof einiger Plattenbauten anzuschauen und zu fotografieren …
Hotel “Ukrajina”
Das zentral gelegene Hotel “Ukrajina” in Tschernihiw ist für wenige Nächte
mein Basislager; es wird gerade umgebaut und ist nur über die Rückseite zu
begehen. Die Rezeption sitzt irgendwo im 3. oder 4. Geschoss in einem
provisorischen Zimmer. Moderner, besser ausgestattet und sicherlich auch
einträglicher sollte das Hotel durch die Bauarbeiten werden. In den ersten
Wochen des Krieges wurde es von mindestens einer russischen Bombe schlimm
getroffen. Die Bilder der Zerstörung haben mich stark mitgenommen.
Hoffentlich wird das Hotel “Ukrajina” wie der Rest des zerstörten Landes
bald wieder aufgebaut werden und Gäste empfangen können.
Warten auf den Armee-Zug
Mit einer Elektritschka fahre ich eines ziemlich frühen Morgens von
Tschernihiw Richtung Westen nach Slawutytsch, das – wie oben bereits
bemerkt – schon fast an der belarussischen Grenze liegt. Die Karten für die
Vorortzüge werden an einem gesonderten, kleinen Schalter im Hauptbahnhof
von Tschernihiw verkauft. Die ältere Frau an der Kasse ist ausgesprochen
freundlich und freut sich, dass ich Ukrainisch spreche …
Die Elektritschka fährt einige Stationen und muss dann plötzlich halten,
weil uns ein Armee-Zug sehr langsam rollend passiert. Aus den Fenstern und
Türen der Waggons schauen freundliche Soldaten, braungebrannt, mit Bärten
und in Uniform, auch Güterwagen sind an den Zug gereiht, sie tragen
teilweise abgedecktes Militärgerät, andernteils sieht man die Fracht:
Lastkraftwagen sowjetischer Bauart, Transportpanzer, Haubitzen. Besonders
die olivgrünen Haubitzen verblüffen mich, sie sehen so alt und primitiv
aus, als wären sie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg produziert worden. Wofür
ist dieses klapprige Gerät? Für die bald stattfindende Militärparade zum
30. Jahrestag der Unabhängigkeit in Kyjiw ja vermutlich nicht, also müssen
die Ukrainer tatsächlich damit zurückschlagen, wenn der Russe angreift? Man
mag es sich nicht vorstellen.
Ich habe schon oft an diesen Militärzug denken müssen und meine
einheimischen Mitreisenden damals sehr genau beobachtet, um zu sehen, wie
er auf sie wirkt und später einen Text darüber geschrieben, der sich auch
in meinem im Januar 2022 erschienenen Gedichtband “Ukrajina, Ukrajinka” findet. In diesem Text über den Armee-Zug heisst es zum Schluss:
Zitat: In meinem Waggon sehe ich
gebannte Blicke:
Voller Furcht,
Besorgnis,
auch Stolz.
Wie die Geschichte sich seit diesem August 2021 weiterentwickelt, wohin der
völkische Russenführer Putin sie getrieben hat, wissen wir alle. Helfen wir
der Ukraine mit aller möglichen Kraft, dass diese Geschichte nun zumindest
gut ausgeht. Selbstverständlich gehört dazu auch die ausreichende Lieferung
schwerer Waffen – mit klapprigen Haubitzen, Spaten und bloßen Armen wird
die Ukraine den russischen Angriffskrieg nicht abwehren können.