Nicht die Quantität macht einen Dichter unsterblich, es ist die Qualität
seiner Worte.
Else Lasker-Schüler (1869-1945) ist für mich ein außerordentlicher
Spezialfall; ich habe früher lange gesucht, aber es sind tatsächlich nur
insgesamt vier Zeilen ihres Werkes, die mich berühren und die ich mir
gemerkt habe – diese aber wiegen so schwer wie ein vollständiges Universum,
sie rechtfertigen Briefmarken, die ihr zum Gedenken produziert, den ICE und
Straßen / Schulen, die ihr zu Ehren benannt worden sind, allemal. Es
handelt sich um die Eingangszeilen ihres Georg Trakl gewidmeten Gedichtes,
die wie folgt lauten:
Seine Augen standen ganz fern –
Er war als Knabe einmal schon im Himmel.
Darum kamen seine Worte hervor
Auf blauen und weißen Wolken.
Danach flacht das Gedicht dramatisch ab. Ich bin Ästhet, kein Barbar, aber
man kann den Rest getrost verlustfrei bzw. sogar gewinnbringend
ab-schneiden. Meinetwegen “fein säuberlich”.
“Seine Augen standen ganz fern”: Der Dichter, der auf der Erde nur halb zu Hause ist. Sein Blick geht in
andere Welten; als Mensch ist er schwer zu fassen. Er ist vermählt mit
seinen Worten, seinen Empfindungen und Einbildungen.
“Er war als Knabe einmal schon im Himmel.”: Ein Rätsel? – oder ein unbekanntes biographisches Detail? Wer selbst eine
Nahtoderfahrung gemacht hat, wird hier genau hinlauschen. Auf jeden Fall
eine Vorzeichnung, ein Los, das im frühen Alter schon zugeteilt wurde. Der
Himmel, wenn er bei Trakl tatsächlich im Spiel war, schien ungeduldig,
bestand wie die Eltern auf erneuten und baldigen Besuch …
“Darum kamen seine Worte hervor”: Das Rätsel bleibt ungelöst, ist aber Ursache einer besonderen Beziehung
zur Sprache. Trakls Worte wurden nach der Deutung von Lasker-Schüler nicht
aktiv aneinander gefügt, sie “kamen hervor” – wie durch einen Mechanismus,
der nicht rein weltlich erklärt werden kann.
”Auf blauen und weißen Wolken”: Ein nur scheinbar simples Bild; Worte aus dem Himmel, die von
übernatürlichen (zuerst!) und natürlichen Kräften getragen werden;
praktisch die Krönung der ganzen Figur, welche die vorangegangenen drei
Zeilen auf eine künstlerische Ebene heben. Blaue und weiße Wolken – mit
ihnen können sich die Gedanken des Lesers noch lange beschäftigen. Blaue
und weiße Wolken! Das ist doch klar: Man muss schon Georg Trakl sein, um
mit blauen Wolken in Verbindung zu stehen und ihnen Worte zu entlocken, die
an ihrer Kraft nichts einbüßen und für immer ihre Singularität behaupten
werden.