Man kann es drehen, wie man will, letztlich bleibt ja doch nur der Schluss
übrig, dass sich seit ewigen Zeiten alles im Niedergang befindet,
mindestens – und das ist echt lange her – seit der Zeit Hesiods, als er
sein gewiss für immer absolut wahres Gedicht “Werke und Tage” über die
Weltalter schrieb – wenn man denn irgendwie an Dichtung glaubt. Feinsinnige
Gemüter spüren diesen Niedergang natürlich besonders in den schönen
Künsten; ihnen müssen wir zuhören, um eventuell auch ein bisschen als
feinsinnig gelten zu können, was wir sicherlich (fast) alle wollen. “Aber
der Fortschritt!” – wendest Du jetzt vielleicht schlau ein, und ich kann
Dir nur leicht beschämt aber durchaus schurkenschlau mit Charles Manson
antworten:
“Fortschritt? Es gibt keinen Fortschritt, nur Veränderung”.
Was also, um mal eine der schönen Künste herauszugreifen, kann Dichtung
heute? Die einfachste Antwort ist: Schau es Dir doch selber an – warum
sollte ich es für Dich wissen? Aber ich mühe mich natürlich trotzdem gern
öffentlich ab. Die zahllosen “exakten” Wissenschaften mögen den Dichter
einschüchtern wie jeden Normalsterblichen: Da glaubt er vielleicht, er kann
ein Vogellied einfühlsam beschreiben – und kennt sich dabei doch gar nicht
so aus wie die Spezialisten, die sich das ganze Jahr mit nichts anderem
befassen und sogar Rechentechnik einsetzen, um mit einer brutalen
Systematik immer mehr darüber zu erfahren. Über-über-überall gibt es diese
Spezialisten, die es stets besser wissen, aber bei der Dichtung geht es ja
erfreulicherweise gar nicht um Wissen oder die möglichst richtige
Darstellung: In einem Gedicht darf eine Amsel klagen, wenn es dem Autoren
so eingefallen ist – und gefällt; in einem Gedicht kann alles mögliche
beschrieben werden und passieren – und natürlich auch nichts. Wunderbares
Nichts, Du bist ja so ein verdammt schöpferisches Ding, stammt aus Dir doch
auch die ganze Schöpfung, was aber selbst schon wieder Dichtung sein mag.
Ach, diese Dichtung! In ihr ist der Geist noch Herrscher, macht, was er
will und kann, und ist so frei, nur von doch immer dehnbaren Sprachgrenzen
eingeschränkt. Mächtige Dichtung! In ihr könnten selbst Romeo und Julia ein
glückliches Liebespaar werden, das dem Selbstmord entkommt ...