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Der Sündenfall als Wahl des Einzelnen

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Johannes R. Becher um 1915 – und sein handgeschriebenes Widmungsblatt zur Russischen Revolution 1917

Wie der Dichter Johannes R. Becher die Demokratie verriet und vom Expressionisten zum Kommunisten wurde

Wenn ein Mensch vom rechten Weg abgekommen ist, und das passiert ja doch recht häufig, kann man versucht sein, sich seine Biographie anzuschauen, um herauszufinden, wann genau und wie der Sündenfall geschah. Oft kann man dabei nur Hypothesen aufstellen und wird vielleicht bemerken, dass es nicht unbedingt den einen unumkehrbaren Wendepunkt gab, sondern dass sich eine Entwicklung, die aus vielen Teilstufen besteht, lange hingezogen hat, und die den Menschen schließlich zu dem machte, wie wir ihn kennen und eben nicht besonders schätzen. Auch unsere Gegenwart kennt viele interessante biographische Beispiele, aber ich verzichte darauf, hier Namen zu nennen und wende mich der Vergangenheit zu. Eine offene Frage des 20. Jahrhunderts bleibt trotz vieler Diskussionen, wie so viele Menschen zu Kommunisten oder Faschisten werden konnten, um in diesen Rollen selbst schuldig zu werden an kleinen, großen und auch abscheulichen Verbrechen. Ich werde sie nicht beantworten können, aber vielleicht kann ich mich immerhin einer Antwort nähern.

Du hast die Wahl
Natürlich leben wir Menschen in Gesellschaften, die uns beeinflussen, und haben in der Regel auch Menschen um uns, die uns ebenfalls beeinflussen. Ich möchte mich aber in diesem Text auf das Individuum beschränken, das mit Ausnahme einiger Randfälle immer eine Wahl hat, wie es sich verhält und deswegen letztlich die Verantwortung für sein Tun trägt. Wenn wir sagen, wir hatten keine andere Wahl, haben wir in der Regel nur die Konsequenzen gescheut, die unsere Wahl bedeutet hätte. Dass wir die Konsequenzen scheuen – darauf spekulieren gewalttätige Diktaturen seit jeher.

Die trügende Kraft der Poesie
Als Anschauungsbeispiel habe ich den Dichter Johannes Robert Becher (1891–1958) gewählt. Er war ein früh vom Leben enttäuschter Schwärmer, der sich in die Lyrik geflüchtet hat und der wie so viele Dichter vor und nach ihm dem Trug erlag, als einzelner wortgewandter Seher mit Gedichten die Geschicke der Menschheit in bessere Bahnen lenken zu können. In diesem Sinne ist Becher – und das finde ich nicht zu harsch geurteilt – nicht nur Dichter, sondern auch Narr gewesen.
Bechers erste Publikation erschien im Jahr 1911. Über eine Reihe von Jahren schrieb er dann im literarischen Sinn revolutionäre, expressionistische, oft sehr beeindruckende Lyrik, er schuf sich praktisch ein poetisches System aus grammatischen Formen und bildhaften Ausdrücken, das ihm, sobald er sich in dieses eingelebt hatte, gewissermaßen eine Massenproduktion von Texten erlaubte. Ein großer Nachteil des fest umrissenen eigenen Stils: Wegen der zugrunde liegenden Systematik ähneln sich die Texte recht häufig, böse gesagt haben wir einen ganzen Gedichtbrei vor uns, aus dem sich nur wenige Glanzlichter wirklich abheben, aber das ist gar nicht weiter schlimm, denn welcher Dichter hat schon eine perfekte Trefferquote? Ein genialer lyrischer Text entschädigt uns für 99 andere, die nicht an ihn heranreichen können. So geht es zu in der Lyrik.

Stil als Masche
Liest man die frühen Texte von Johannes R. Becher in schneller Folge in der Ordnung ihres Erschaffenwordenseins, wird man sie vielleicht als etwas repetitiv bis ermüdend empfinden. Man kann sich auch den Spaß machen, diesen Stil nach einer Analyse seiner Bestandteile, seines Wesens zu imitieren. Ich habe es einmal in «Der goldene Dampf der Erlösung» mit ein wenig mutwilliger Übertreibung versucht und hätte sogar Lust, das noch weiter auszuführen. Apropos: Erlösung ist wie Verbrüderung ein wichtiges Bechersches Schlagwort, das sich durch viele seiner frühen Gedichte zieht. Nach Erlösung und Verbrüderung hat Becher gestrebt, und vor dem Hintergrund des Massenschlachtens des Ersten Weltkrieges ist es gar nicht so verwunderlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, nur hat es ihn zum Extremismus geführt – zu jenen, die das Kind mit dem Bade auskippen wollen, weil sie meinten, eine alle Probleme lösende Formel gefunden zu haben, die man nur mit genügend Gewalt zur Anwendung bringen müsse, um die Welt zu einem Paradies zu machen. Eine Fehlannahme mit entsetzlichen Konsequenzen.

Ein poetischer Kipppunkt
Der Becher-Gedichtband «Das neue Gedicht» erschien 1918 im Insel-Verlag Leipzig. Im fünften Buch findet sich ein kurzer und dennoch berüchtigter Text von 1917, der Johannes Robert Becher direkt mit dem russischen Bolschewismus in Verbindung bringt:

Zitat:

WIDMUNGSBLATT
ZUR RUSSISCHEN REVOLUTION 1917


Augen zu: Laßt Guillotinen spielen!
Menschenknäuel übern Platz gefegt –
Daß die Strahlen euerer Finger zielen
Durch den Raum ins Herz der Kaiser schräg!!!


Was sagen uns diese vier Zeilen? Ich möchte eine Deutung versuchen. Wir können in ihnen zuerst einmal die Verharmlosung des Mordes sehen: Ein Hinrichtungsinstrument, die Guillotine, wird als Spielzeug deklariert, das benutzt werden soll. Die Morde müssen offenbar auf jeden Fall verübt werden, die Knappheit des Ausdrucks scheint keine Diskussion zuzulassen, immerhin werden sie als etwas dargestellt, das man nicht unbedingt mit eigenen Augen anschauen soll («Augen zu»). Weiters werden uns Menschenmassen als Knäuel präsentiert, die etwas über einen Platz fegt, vielleicht geht es um eine Demonstration – oder es ist bereits ein Reinemachen der Gesellschaft, ihre «Befreiung» von den gewesenen Menschen, die in der neuen Ordnung keinen Platz mehr haben werden, möglicherweise abermals zu realisieren durch Mord. Ich fühle mich an den von Majakowskij gepriesenen «eisernen Oktoberbesen» erinnert.
Die Strahlen der Finger würde ich als die Zensur bzw. die strafende Strenge des Gesetzes umgehende Umschreibung von Schüssen deuten, welche die Entfernung, also den Raum, überwinden und dann trotzdem die Herzen herrschender Monarchen geometrisch präzise, vollkommen gewollt («schräg!!!») und mit absolutem Nachdruck, daher die drei Ausrufezeichen, durchschlagen. Wichtig ist der Plural, es geht nicht um den Sozialismus in einem Land, wie er ab 1925 in der Sowjetunion von den Bolschewisten popularisiert wurde, sondern noch um die Weltrevolution – wenn man das Wort «Kaiser» etwas freier interpretiert, wie ich es eben getan habe.

Der Mensch als entindividualisierte Masse
Wie ein Diktator, Terrorist oder manch ein gewöhnlicher Politiker sieht Becher die Menschen in seinen Texten häufig nicht als Individuen sondern lediglich als Masse – Gedichte, die in zeitlicher Nähe verfasst worden sind, verdeutlichen uns das Bechersche Menschenbild, in «Anrufung» wird der Mensch beispielsweise mit dem Vieh gleichgesetzt, was allerdings auch kritisch gemeint sein könnte, augenfällig sind aber wieder die angedeuteten Gewalttaten, das Messer, das unheilvoll in Beziehung zu den Leibern gesetzt wird:

Zitat:

O Mensch, o Mensch, gebenedeite Massen
Kloaken speien. Bajonette rasseln.
O Mensch, hah Vieh –: Tumult frißt eueren Ort.
Welch Messer Züngeln quer die Leiber fort.


In «Gedichte für ein Volk» begegnet uns dann das «positive» Gegenbild Bechers:
Der Einzelne geht in dem Text in einer Allheit auf, die sich nicht mehr bewaffnen muss, da die Erlösung, die immerwährende Harmonie, eingetreten ist und «alle Menschen Brüder» sind, wie es sich bereits Friedrich Schiller erhofft hatte.

Zitat:

Volk du, endliches. Volk du ohn all Schwert.
Heerschar Gottes.
Staat du des neuen, des allvereinigenden, des reinen Bluts.
Brüder! Brüder alle.


Das ist, wenn man den Gott abzieht, der hier noch erwähnt wird, schon ziemlich dicht an der kommunistischen Ideologie. Wie die Realiserungsversuche dieser Ideologie aussahen, muss ich nicht erneut erwähnen. Jeder sollte wissen, zu welchen Opfern sie geführt haben und bitte nicht den Fehler begehen, nur die offensichtlichsten, die Toten, zu zählen, denn auch weit unter dem Tod gibt es beträchtliches Leid.

Schwere Sünden
Das Widmungsblatt scheint mir ein Kipppunkt in Bechers Leben und Werk zu sein. Ganz offen bewundert er die gesellschaftsverändernde Gewalt des von Lenin angeführten bolschewistischen Umsturzes – und träumt in anderen Texten nahezu parallel von einer Art himmlischem Frieden. Das ist keine überraschende, sondern eine durchaus logische Entwicklung, die sich schon lange abgezeichnet hat. Der Lauf der Geschichte tut sein Übriges, er bietet Johannes Robert Becher die Gelegenheit, schwer zu sündigen.

1919 wird Becher in seinem bekannteren Gedicht «Gruß des deutschen Dichters an die Russische Föderative Sowjet=Republik» noch deutlicher. Wir können anhand der Texte nachvollziehen, wie aus dem orientierungslos suchenden Expressionisten ein Kommunist wird, der seine weltliche Heilslehre gefunden hat. Den westlichen Demokratien sagt er den Kampf an, das terror-rote Moskau wird zu seinem wichtigsten Impulsgeber, auf England (Albion) und Frankreich, Siegermächte des Ersten Weltkriegs, schaut er jetzt sozialistisch beflügelt mit deutsch-nationaler Verachtung:

Zitat:

Der Dichter grüßt dich –: Sowjet-Republik!
Zertrümmert westliche Demokratieen!
Schon sternt ein Beil ob Albions Stiergenick.
Dein Sieg, o Frankreich, muß dich niederziehen.


An diesem letzten Textbeispiel und Bechers weiterer Biographie sehen wir, wie Russland Menschen damals genau wie heute in Abgründe gerissen hat, weil sie der Demokratie überdrüssig geworden sind. Dieses Gerissenwerden ist aber kein reines Schicksal, auch wenn Becher aufgrund seiner Erlebnisse, seines Lebens und seines Charakters scheinbar prädestiniert für den Sündenfall war, hat er sich für diesen entschieden, weil er ihn für die beste aller Möglichkeiten hielt. Ein grober Irrtum, der wie ein Verdammungsurteil über dem Talent liegt, das er eigentlich hatte.

Zitat:

WARNUNG
Mein Wort mein Wort euch Explosion und Bombe!
Das frißt und weitet. Durch die Bresche schwebt
Das letzte Licht. Daß auch der Ärmste lebt,
Ja, lebt und atmet! Ihr –: der Katakomben

Hyänen belfert wütend. Schleimt und klebt.
Ha –: euer Werk nur Flickzeug stets und Plombe.
Jetzt tagt die Tat! Drum tretet ab und bebt!
Mein Wort mein Wort euch Explosion und Bombe …

Mein Weg heißt Diktatur. Mein Ziel: des Geistes
Gewaltige Herrschaft im befreiten Reich.
Das Paradies durch Alle Menschen kreist es.

Ich warne vorm verstrickenden Vergleich!!!
Im Bürger wird nur unsere Kraft erschlaffen.
Du aber mußt, Prolet, dich selbst erschaffen!

Aus: «An Alle!» (1919)


Veröffentlicht am 27.11.2022

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