Wenn ein Mensch vom rechten Weg abgekommen ist, und das passiert ja doch
recht häufig, kann man versucht sein, sich seine Biographie anzuschauen, um
herauszufinden, wann genau und wie der Sündenfall geschah. Oft kann man
dabei nur Hypothesen aufstellen und wird vielleicht bemerken, dass es nicht
unbedingt den einen unumkehrbaren Wendepunkt gab, sondern dass sich eine
Entwicklung, die aus vielen Teilstufen besteht, lange hingezogen hat, und
die den Menschen schließlich zu dem machte, wie wir ihn kennen und eben
nicht besonders schätzen. Auch unsere Gegenwart kennt viele interessante
biographische Beispiele, aber ich verzichte darauf, hier Namen zu nennen
und wende mich der Vergangenheit zu. Eine offene Frage des 20. Jahrhunderts
bleibt trotz vieler Diskussionen, wie so viele Menschen zu Kommunisten oder
Faschisten werden konnten, um in diesen Rollen selbst schuldig zu werden an
kleinen, großen und auch abscheulichen Verbrechen. Ich werde sie nicht
beantworten können, aber vielleicht kann ich mich immerhin einer Antwort
nähern.
Du hast die Wahl
Natürlich leben wir Menschen in Gesellschaften, die uns beeinflussen, und
haben in der Regel auch Menschen um uns, die uns ebenfalls beeinflussen.
Ich möchte mich aber in diesem Text auf das Individuum beschränken, das mit
Ausnahme einiger Randfälle immer eine Wahl hat, wie es sich verhält und
deswegen letztlich die Verantwortung für sein Tun trägt. Wenn wir sagen,
wir hatten keine andere Wahl, haben wir in der Regel nur die Konsequenzen
gescheut, die unsere Wahl bedeutet hätte. Dass wir die Konsequenzen scheuen
– darauf spekulieren gewalttätige Diktaturen seit jeher.
Die trügende Kraft der Poesie
Als Anschauungsbeispiel habe ich den Dichter Johannes Robert Becher
(1891–1958) gewählt. Er war ein früh vom Leben enttäuschter Schwärmer, der
sich in die Lyrik geflüchtet hat und der wie so viele Dichter vor und nach
ihm dem Trug erlag, als einzelner wortgewandter Seher mit Gedichten die
Geschicke der Menschheit in bessere Bahnen lenken zu können. In diesem
Sinne ist Becher – und das finde ich nicht zu harsch geurteilt – nicht nur
Dichter, sondern auch Narr gewesen.
Bechers erste Publikation erschien im Jahr 1911. Über eine Reihe von Jahren
schrieb er dann im literarischen Sinn revolutionäre, expressionistische,
oft sehr beeindruckende Lyrik, er schuf sich praktisch ein poetisches
System aus grammatischen Formen und bildhaften Ausdrücken, das ihm, sobald
er sich in dieses eingelebt hatte, gewissermaßen eine Massenproduktion von
Texten erlaubte. Ein großer Nachteil des fest umrissenen eigenen Stils:
Wegen der zugrunde liegenden Systematik ähneln sich die Texte recht häufig,
böse gesagt haben wir einen ganzen Gedichtbrei vor uns, aus dem sich nur
wenige Glanzlichter wirklich abheben, aber das ist gar nicht weiter
schlimm, denn welcher Dichter hat schon eine perfekte Trefferquote? Ein
genialer lyrischer Text entschädigt uns für 99 andere, die nicht an ihn
heranreichen können. So geht es zu in der Lyrik.
Stil als Masche
Liest man die frühen Texte von Johannes R. Becher in schneller Folge in der
Ordnung ihres Erschaffenwordenseins, wird man sie vielleicht als etwas
repetitiv bis ermüdend empfinden. Man kann sich auch den Spaß machen,
diesen Stil nach einer Analyse seiner Bestandteile, seines Wesens zu
imitieren. Ich habe es einmal in «Der goldene Dampf der Erlösung» mit ein wenig mutwilliger Übertreibung versucht und hätte sogar Lust, das
noch weiter auszuführen. Apropos: Erlösung ist wie Verbrüderung ein
wichtiges Bechersches Schlagwort, das sich durch viele seiner frühen
Gedichte zieht. Nach Erlösung und Verbrüderung hat Becher gestrebt, und vor
dem Hintergrund des Massenschlachtens des Ersten Weltkrieges ist es gar
nicht so verwunderlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, nur hat
es ihn zum Extremismus geführt – zu jenen, die das Kind mit dem Bade
auskippen wollen, weil sie meinten, eine alle Probleme lösende Formel
gefunden zu haben, die man nur mit genügend Gewalt zur Anwendung bringen
müsse, um die Welt zu einem Paradies zu machen. Eine Fehlannahme mit
entsetzlichen Konsequenzen.
Ein poetischer Kipppunkt
Der Becher-Gedichtband «Das neue Gedicht» erschien 1918 im Insel-Verlag Leipzig. Im fünften Buch findet sich ein
kurzer und dennoch berüchtigter Text von 1917, der Johannes Robert Becher
direkt mit dem russischen Bolschewismus in Verbindung bringt:
Zitat: WIDMUNGSBLATT
ZUR RUSSISCHEN REVOLUTION 1917
Augen zu: Laßt Guillotinen spielen!
Menschenknäuel übern Platz gefegt –
Daß die Strahlen euerer Finger zielen
Durch den Raum ins Herz der Kaiser schräg!!!
Was sagen uns diese vier Zeilen? Ich möchte eine Deutung versuchen. Wir
können in ihnen zuerst einmal die Verharmlosung des Mordes sehen: Ein
Hinrichtungsinstrument, die Guillotine, wird als Spielzeug deklariert, das
benutzt werden soll. Die Morde müssen offenbar auf jeden Fall verübt
werden, die Knappheit des Ausdrucks scheint keine Diskussion zuzulassen,
immerhin werden sie als etwas dargestellt, das man nicht unbedingt mit
eigenen Augen anschauen soll («Augen zu»). Weiters werden uns
Menschenmassen als Knäuel präsentiert, die etwas über einen Platz fegt, vielleicht geht es um eine Demonstration – oder es
ist bereits ein Reinemachen der Gesellschaft, ihre «Befreiung» von den gewesenen Menschen, die in der neuen Ordnung keinen Platz mehr haben werden,
möglicherweise abermals zu realisieren durch Mord. Ich fühle mich an den
von Majakowskij gepriesenen «eisernen Oktoberbesen» erinnert.
Die Strahlen der Finger würde ich als die Zensur bzw. die strafende Strenge
des Gesetzes umgehende Umschreibung von Schüssen deuten, welche die
Entfernung, also den Raum, überwinden und dann trotzdem die Herzen
herrschender Monarchen geometrisch präzise, vollkommen gewollt
(«schräg!!!») und mit absolutem Nachdruck, daher die drei Ausrufezeichen,
durchschlagen. Wichtig ist der Plural, es geht nicht um den Sozialismus in
einem Land, wie er ab 1925 in der Sowjetunion von den Bolschewisten
popularisiert wurde, sondern noch um die Weltrevolution – wenn man das Wort
«Kaiser» etwas freier interpretiert, wie ich es eben getan habe.
Der Mensch als entindividualisierte Masse
Wie ein Diktator, Terrorist oder manch ein gewöhnlicher Politiker sieht
Becher die Menschen in seinen Texten häufig nicht als Individuen sondern
lediglich als Masse – Gedichte, die in zeitlicher Nähe verfasst worden
sind, verdeutlichen uns das Bechersche Menschenbild, in «Anrufung» wird der Mensch beispielsweise mit dem Vieh gleichgesetzt, was allerdings
auch kritisch gemeint sein könnte, augenfällig sind aber wieder die
angedeuteten Gewalttaten, das Messer, das unheilvoll in Beziehung zu den
Leibern gesetzt wird:
Zitat: O Mensch, o Mensch, gebenedeite Massen
Kloaken speien. Bajonette rasseln.
O Mensch, hah Vieh –: Tumult frißt eueren Ort.
Welch Messer Züngeln quer die Leiber fort.
In «Gedichte für ein Volk» begegnet uns dann das «positive» Gegenbild Bechers:
Der Einzelne geht in dem Text in einer Allheit auf, die sich nicht mehr
bewaffnen muss, da die Erlösung, die immerwährende Harmonie, eingetreten
ist und «alle Menschen Brüder» sind, wie es sich bereits Friedrich Schiller
erhofft hatte.
Zitat: Volk du, endliches. Volk du ohn all Schwert.
Heerschar Gottes.
Staat du des neuen, des allvereinigenden, des reinen Bluts.
Brüder! Brüder alle.
Das ist, wenn man den Gott abzieht, der hier noch erwähnt wird, schon
ziemlich dicht an der kommunistischen Ideologie. Wie die
Realiserungsversuche dieser Ideologie aussahen, muss ich nicht erneut
erwähnen. Jeder sollte wissen, zu welchen Opfern sie geführt haben und
bitte nicht den Fehler begehen, nur die offensichtlichsten, die Toten, zu
zählen, denn auch weit unter dem Tod gibt es beträchtliches Leid.
Schwere Sünden
Das Widmungsblatt scheint mir ein Kipppunkt in Bechers Leben und Werk zu
sein. Ganz offen bewundert er die gesellschaftsverändernde Gewalt des von
Lenin angeführten bolschewistischen Umsturzes – und träumt in anderen
Texten nahezu parallel von einer Art himmlischem Frieden. Das ist keine
überraschende, sondern eine durchaus logische Entwicklung, die sich schon
lange abgezeichnet hat. Der Lauf der Geschichte tut sein Übriges, er bietet
Johannes Robert Becher die Gelegenheit, schwer zu sündigen.
1919 wird Becher in seinem bekannteren Gedicht «Gruß des deutschen Dichters an die Russische Föderative Sowjet=Republik» noch deutlicher. Wir können anhand der Texte nachvollziehen, wie aus dem
orientierungslos suchenden Expressionisten ein Kommunist wird, der seine
weltliche Heilslehre gefunden hat. Den westlichen Demokratien sagt er den
Kampf an, das terror-rote Moskau wird zu seinem wichtigsten Impulsgeber,
auf England (Albion) und Frankreich, Siegermächte des Ersten Weltkriegs,
schaut er jetzt sozialistisch beflügelt mit deutsch-nationaler Verachtung:
Zitat: Der Dichter grüßt dich –: Sowjet-Republik!
Zertrümmert westliche Demokratieen!
Schon sternt ein Beil ob Albions Stiergenick.
Dein Sieg, o Frankreich, muß dich niederziehen.
An diesem letzten Textbeispiel und Bechers weiterer Biographie sehen wir,
wie Russland Menschen damals genau wie heute in Abgründe gerissen hat, weil
sie der Demokratie überdrüssig geworden sind. Dieses Gerissenwerden ist
aber kein reines Schicksal, auch wenn Becher aufgrund seiner Erlebnisse,
seines Lebens und seines Charakters scheinbar prädestiniert für den
Sündenfall war, hat er sich für diesen entschieden, weil er ihn für die beste aller Möglichkeiten hielt. Ein grober Irrtum,
der wie ein Verdammungsurteil über dem Talent liegt, das er eigentlich
hatte.
Zitat: WARNUNG
Mein Wort mein Wort euch Explosion und Bombe!
Das frißt und weitet. Durch die Bresche schwebt
Das letzte Licht. Daß auch der Ärmste lebt,
Ja, lebt und atmet! Ihr –: der Katakomben
Hyänen belfert wütend. Schleimt und klebt.
Ha –: euer Werk nur Flickzeug stets und Plombe.
Jetzt tagt die Tat! Drum tretet ab und bebt!
Mein Wort mein Wort euch Explosion und Bombe …
Mein Weg heißt Diktatur. Mein Ziel: des Geistes
Gewaltige Herrschaft im befreiten Reich.
Das Paradies durch Alle Menschen kreist es.
Ich warne vorm verstrickenden Vergleich!!!
Im Bürger wird nur unsere Kraft erschlaffen.
Du aber mußt, Prolet, dich selbst erschaffen!
Aus: «An Alle!» (1919)