Die Aufklärung, der Fortschritt der Wissenschaft – haben sie unsere Welt
nicht auch zu einer ziemlich faden und nüchternen Angelegenheit gemacht?
Für fast alles gibt es in unserer Zeit eine triftige wissenschaftliche
Erklärung, für jedes Ereignis, jedes Phänomen, und wenn wir selbst etwas zu
wissen glauben, stellen wir wenig später nur zu oft fest, dass unser Wissen
noch immer ziemlich ungenau, wenn nicht sogar falsch ist. Unsere
Nichtigkeit im Weltmaßstab, der in Zeiten der Globalisierung immer mehr der
relevante, bestimmende Maßstab zu sein scheint, wird uns so täglich vor
Augen geführt.
Wissenschaft, die einen kalt lässt
Mit dem Schlagwort «Entzauberung der Welt» hat Max Weber diesen Zustand bereits im Jahr 1917 im Rahmen seines Vortrags
«Wissenschaft als Beruf» recht treffend bezeichnet, auch wenn er damit
vielleicht nicht genau das gleiche wie ich im Sinn gehabt hat. Die
Wissenschaft ermöglicht uns die Beherrschung der Natur, aber sie wärmt die
meisten Seelen nicht, sie lässt uns vielmehr ganz schön kalt zurück. Die
Wissenschaft hat die Religionen bei uns im Westen schon vor langer Zeit
weitestgehend zurückgedrängt, und nun suchen wir nach Surrogaten, werden
Apple-Fanboys, Fussballliebhaber, Freizeit-Buddhisten, Konsumenten von
Designerdrogen usw. usf. – manchmal vieles gleichzeitig, ohne dass uns
diese Fülle tatsächlich unbedingt erfüllt.
Erklärung für grobe Rückfälle
Ein großes Rätsel unserer Zeit ist der Erfolg von Fake-News,
Verschwörungstheorien und Menschen, die konsequent Falschheiten verbreiten
sowie moralisch ganz offensichtlich verwerfliche Positionen vertreten. Ich
möchte keine Namen nennen, jeder kennt sie ohnehin, man findet sie zur
Genüge auf den aktuellen Sachbuch-Bestsellerlisten, auf den Sesseln der
Talkshows, in Texten der Printmedien, auf Twitter. Bei all der Aufklärung,
all dem wissenschaftlichen Fortschritt: Wie lassen sich diese groben
Rückfälle erklären?
Das Dunkel in der Welt
Menschen, die regelmäßig unlautere Botschaften vortragen und für diese
bekannt sind, möchte ich gern als «Schwarze Sender» bezeichnen. Sie verdunkeln die durch den Siegeszug der Wissenschaft
hergestellte Überhelligkeit, die uns blendet, sie bringen das Irrationale
zurück in unsere Welt. Sie stellen der oft etwas langweiligen Wirklichkeit
phantastische Theorien entgegen, mit denen sie uns enthüllen wollen, was wirklich wirklich ist oder werden wird. Sie bieten uns Lösungen an für Probleme, die keine
sind, oder die zu noch schlimmeren Problemen führen werden.
Alleinstellungsmerkmale auf dem Markt der Meinungen
Warum wird dieses bewusste Danebenliegen, dieses systematische Lügen von
vielen Menschen auf der Empfängerseite honoriert? Wir sind so sehr an die
Herrschaft der Wahrheit gewöhnt, dass wir ihre Daseinsbelege kaum noch als
Nachricht, als Ereignis wahrnehmen. Die einfachste Erklärung ist für mich
daher, dass man als Vertreter einer Wahrheit den Nachteil hat, sich
überhaupt nicht von der Masse abzuheben. Wer keine Alleinstellungsmerkmale aufzuweisen hat, wird sich auf dem Markt der Meinungen allerdings schwer
Gehör verschaffen können, da er nur das sagt, was viele andere auch sagen.
Warum also sollte man gerade Dir zuhören, wenn der Nächstbeste das gleiche
sagt?
Im Licht der Scheinwerfer
Ein erregendes Ereignis ist es, wenn sich jemand, der einen Ruf zu
verlieren hat, in die Öffentlichkeit stellt und in vollstem Ernst sagt:
«Die Erde ist eine Scheibe», «Onanie macht impotent» oder «Russland ist ein
Friedensstaat». Damit hebt man sich ab, die Scheinwerfer gehen an und
werden auf einen gerichtet, man ist jetzt eben ein Ereignis, produziert
Nachrichten. Der «Schwarze Sender» wird durch seine vom gesunden Mainstream
(es gibt zweifelsohne auch einen sehr ungesunden Mainstream) abweichende
Botschaft selbst zur Botschaft, ohne ihn gibt es keine derartig gestalteten
Botschaften, und deswegen ist er das zentrale Stück der ganzen
Angelegenheit.
Manchmal wird der «Schwarze Sender» gar ein Märtyrer für seine Ideen. Die
Opferrolle jedenfalls gefällt ihm häufig gut, und seine Anhänger scharen
sich um ihn, um ihn gegen Angriffe zu schützen. Das Mitleid, das Friedrich
Nietzsche so sehr kritisiert hat, ist auch lange nach dessen Tod eine
extrem starke Gefühlsregung. Es hat sich durch ihn nicht wegphilosophieren
lassen.
Dunkles Reden aus einer Position der Macht
Natürlich wird nicht jeder, der irgendeinen Blödsinn daherredet, als
«Schwarzer Sender» ein Star. Dazu gehört nach meiner Beobachtung in der
Regel auch noch eine gesellschaftliche Position der Macht, man muss sich im
übertragenen Sinn bereits einen gewissen Namen gemacht haben und nicht nur
jenen tragen, den man bei seiner Geburt erhalten hat:
Jemand hat sich durch seine Stellung bereits ein gewisses Ansehen erworben,
er ist mit anderen gut vernetzt, findet immer einen Kanal, in den er seine
Botschaften schütten kann, damit sie zahlreiche Leute erreicht, er ist
durch seine Position auf viele Weisen gegen Angriffe gut abgesichert. Einem
ehemaligen Bundeskanzler wird man beispielsweise nicht mehr wegnehmen
können, dass er einmal Bundeskanzler gewesen ist, ein Professor sitzt
ziemlich fest im Sattel seines Jobs, andere kennt man aus dem
öffentlich-rechtlichen Fernsehen, als erfolgreichen Sänger usw. usf..
Vielleicht sind «Schwarze Sender» oft sehr unzufriedene Leute, deren
Karriere und schließlich Leben sich nicht so entwickelt hat, wie sie sich
es vorgestellt haben, manchmal verlieren sie sogar ihre Stelle, aus der sie
ihr ganzes Selbstwertgefühl geschöpft haben. Plötzlich sind sie ein Niemand
– und niemand interessiert sich mehr für sie. Einige entscheiden sich dann
dafür, ordentlich Krawall zu schlagen, um nach wie vor die Aufmerksamkeit
anderer Menschen zu erregen. Nahezu jedes Mittel ist recht, solange es dazu
führt, dass die Gesellschaft wieder ihre Scheinwerfer auf einen richtet.
Das ist wie mit ordinären Nazis, die als solche erkennbar herumlaufen,
damit sich fremde Menschen mit ihnen beschäftigen: Lieber gehasst als
überhaupt nicht anerkannt werden, denn auch negative Anerkennung, die
Ablehnung, ist schließlich eine Art der Anerkennung.
Eine verheerende Dialektik bewirkt Reichweitenwachstum
Von den Anhängern «Schwarzer Sender» habe ich bereits etwas diffus geredet.
Sehr zentral aber sind in dem ganzen Wirkzusammenhang auch ihre Gegner,
denn erst sie machen den Erregungszirkel komplett. Dass man der Verbreitung
von schädlichem Blödsinn, beispielsweise sexuelle Minderheiten
diskriminierenden oder pro-russischen Positionen entgegentritt, wo sie
einem begegnen, ist eine Selbstverständlichkeit; die verblüffende Dialektik
der Medien, die eine massenhafte zwischenmenschliche Kommunikation
ermöglichen, besteht nun aber darin, dass auch dieses Entgegentreten dazu
beiträgt, den zweifelhaften Ruhm, die Bekanntheit und die Reichweite eines
«Schwarzen Senders» zu vergrößern, da die Gegner auch immer wieder die
Botschaften zitieren, die sie eigentlich kritisieren, weil sie sich für die
Kritik auf diese beziehen müssen. Damit tragen die Gegner meist ungewollt
zur Verbreitung der kritisierten Botschaften bei. Schnell kann es dann dazu
kommen, dass ein «Schwarzer Sender», der nicht klein beigibt, den Diskurs
dominiert, denn mit immer neuen Botschaften setzt er die Impulse, auf die
sich Anhänger wie Gegner und oft genug auch die Medien stürzen. Und so
läuft es von Informationsrunde zu Informationsrunde. Dabei geht es
letztlich gar nicht so sehr um die Botschaften, die der «Schwarze Sender»
aussendet, sondern um ihn selbst. Die Botschaften sind nur Mittel zum
Zweck. Der «Schwarze Sender» thront über allem und erfreut sich
wahrscheinlich an dem bedenklichen Spiel, das er mit den Menschen spielt –
aber natürlich ist er nur ein trauriger Verlierer, ohne es bereits
eingesehen zu haben.
Gier nach Neuigkeiten
Wir gieren nach Neuigkeiten und Stimuli, wollen uns in der Welt, in der wir
leben, orientieren, sie tiefgründig kennenlernen und erfahren, und meistens
auch aktiv an ihr teilhaben. Die wenigsten von uns sind wie Henry David
Thoreau, der in seinem Buch «Walden» (1854) als freiwilliger Einsiedler
kokettierte: «Ich bin sicher, dass ich niemals irgendwelche erinnerungswürdigen
Neuigkeiten in einer Zeitung gelesen habe».
Erregungsspiralen beenden
Achten wir auf die mediale Dialektik: «Schwarze Sender» müssen nach ihrer
Entdeckung und Enttarnung stillgelegt und nicht in immer neuen
Erregungsspiralen in noch luftigere Bekanntheitshöhen gebracht werden, in
denen sie eine stets größere Reichweite erlangen. Die meisten von ihnen
haben unsere wertvolle Aufmerksamkeit kein bisschen verdient.
Es gibt genug liebe Menschen, die sie dringender brauchen und besser
verwenden können.