Ein Taxi fährt nachts durch die kopfsteingepflasterten Straßen von Lwiw
(Lemberg), im Westen der Ukraine: durch die Lissowa, Horodotska,
Lytschakiwska. Am Steuer sitzt Taras. Seine Gäste kommen größtenteils aus
Polen, sie haben Nierensteine und die nächtlichen Fahrten sind so etwas wie
eine medizinische Behandlung, die sie in ausländischer Währung bezahlen.
Die Einnahmen tauscht Taras am Ende seiner Schichten bei einer freundlichen
Frau in einer Wechselstube in heimische Hrywni um. Sie wächst ihm
schließlich ans Herz.
Andrej Kurkows leicht phantastischer Roman “Jimi Hendrix live in Lemberg”
spielt, wie der Titel schon sagt, größtenteils in Lwiw / Lemberg, dieser
sagenhaften Stadt. Wer sie noch nicht kennt, stelle sich einfach ein
ukrainisches Prag ohne Fluss vor – und wer, der die Stadt kennt, würde
nicht von ihr schwärmen?! Wenn man überhaupt einen Mangel an ihr
feststellen wollte, dann natürlich allein den folgenden:
Zitat: Wem war in den Sinn gekommen, diese prächtige Stadt so weit vom Meer entfernt zu erbauen? Noch schlimmer, überhaupt weit weg vom Wasser!
Sehnsucht nach Lwiw
Kurkows Roman erschien bereits im Jahr 2012, in deutscher Übersetzung
erstmalig 2014. Bei mir ruhte das Buch schon etwas länger im Regal, jetzt
habe ich endlich einmal Zeit gefunden, es zu lesen. Das liegt sicherlich
auch daran, dass es während des aktuellen russischen Krieges gegen die
Ukraine nicht opportun ist, nach Lwiw aus touristischen Gründen zu reisen
und ich schon etwas Sehnsucht nach der Stadt habe. Zuletzt war ich zur
Neujahrsfeier 2021/22 in Lwiw – da gab es bereits Reisewarnungen wegen des
drohenden Krieges. Der russische Aufmarsch, der im Frühjahr 2021 begonnen
hatte, ließ schlimmes erahnen. Putin hatte Ende 2021 die Entscheidung für
sich wahrscheinlich längst gefällt, mit seinem Militär in die Ukraine
einzumarschieren, die Rhetorik im Dezember deutlich verschärft,
unerfüllbare Forderungen gestellt. Aber zurück zum Buch.
Sowjetische Hippies, ein Ex-KGBler, ein trockener Friseur
Ich möchte vom Plot von Kurkows Roman nicht zu viel verraten, also
eigentlich kaum mehr als eingangs erwähnt. Auf dem Buchrücken spricht man
von einem “Feuerwerk von unglaublichen und skurrilen Einfällen” des Schriftstellers. Das ist von der Marketingabteilung sicherlich etwas
dick aufgetragen, aber kreativ und virtuos ausgeführt ist es schon, wie
Kurkow in seinem Werk verbliebene Teilnehmer des “Heiligen Gartens”, einem
legendären Treffpunkt sowjetischer Hippies in Lwiw, einen “ehemaligen”
KGB-Mann, Obdachlosenhelferinnen, einen Schriftsteller, einen trockenen
Friseur, der nicht mehr allein leben möchte, und andere als handelnde
Figuren in der Perle Galiziens zusammenbringt. Natürlich wird in Kurkwos
Roman auch viel getrunken. Das gehört zum Sozialisieren in der Ukraine
gewissermaßen dazu. Die Wahl der Getränke, wenn ich das hier am Rande
erwähnen darf, erscheint mir durchaus gelungen: Zakarpatskij Cognac,
Lagavulin Whisky, Chortyzja Horilka.
Persönlich hätte ich mir etwas mehr Handlungsschwerpunkte auf den
ex-sowjetischen Hippies gewünscht, aber nach Kurkows Roman erschien ja nun
auch die Monographie “Flowers Through Concrete. Explorations in Soviet Hippieland” (Oxford 2021) der Historikerin Juliane Fürst, die das Thema non-fiktional
ausführlich dargestellt hat.
Zwischenmenschliche Versöhnung
Den Roman habe ich im dritten Viertel als etwas schwächer empfunden, das
“unheimliche Möwen”-Thema, das ich in dieser Rezension nicht näher
erläutern möchte, erschien mir allmählich etwas ausgereizt, aber die
Darstellung der Menschen, ihr Interagieren und schließlich das Aufspüren
ihres grundlegenden Humanismus ist schon eine großartige Leistung von
Andrej Kurkow, die ich bei ihm auch in “Graue Bienen” (2018) fortgesetzt gefunden habe: Selbst wenn zwei Figuren sich in
konträren politischen Lagern befinden, schafft es der Autor, sie auf eine
versöhnliche Ebene zu setzen, auf der sie immerhin noch miteinander
kommunizieren können – sofern sie denn als Individuen und nicht als aktive
Vertreter von staatlichen Organisationen handeln. Ob das immer richtig ist,
weiß ich nicht zu sagen. Wenn der KGB-Mann Rjabzew sich im Roman selbst
einredet:
Zitat: Das war nicht ich, das war das System.
dann macht er es sich schon etwas einfach; allerdings ist es ja auch
wichtig, wie sich ein Mensch weiterhin entwickelt, nachdem er dem Bösen
gedient hat: Sieht er seine Fehler ein, bedauert er sie, versucht er, ein
anderer Mensch zu werden?
Über den Hippie Alik schreibt Kurkow:
Zitat: Nein, er, Alik, hatte das sowjetische Regime nie bekämpft. Er hatte es einfach ignoriert.
Alik und Rjabzew sind vielleicht gar nicht so unterschiedliche Typen …
irgendwann ist der eine den einen Weg gegangen, der andere den anderen –
und doch überschneiden sich ihre Biographien auf erstaunliche Weise, laufen
zeitweise parallel, auch nach dem Ende der Sowjetunion.
Den Polen Jerzy Astrowski lässt Kurkow sagen:
Zitat: Ehemaliger KGBler oder Kommunist kann man nicht sein – diese Stempel waschen sich nicht von Körper und Seele ab. Aber aus mir hat man zu sowjetischer Zeit alles Polnische herausgeprügelt, außer meinem Vor- und Nachnamen ist nichts mehr geblieben.
Die stets gegenwärtige Vergangenheit
Die Vergangenheit spielt bei den Figuren in Kurkows Roman also keine
geringe Rolle. Sie ist immer präsent, die Figuren müssen mit ihr leben –
und das schaffen sie sogar ganz gut: ebenso wie die Ukrainer im wirklichen
Leben. Was ist dem ukrainischen Volk nicht alles schon aufgebürdet worden!?
Wenn man “Jimi Hendrix live in Lemberg” im Jahr 2022 liest, sucht man
vielleicht auch nach Zeichen der Gegenwart in diesem Roman. Sind die darin
auftauchenden unheimlichen, aggressiven Möwen, die in Lwiw eigentlich
nichts verloren haben, schon ein Vorzeichen der späteren russischen Invasion der Ukraine?! Sind diese Möwen
eigentlich russische Marschflugkörper, Raketen, Kugeln und Bomben?? Man
kann es sicherlich so deuten, auch wenn der Roman selbst die Möwen auf
einen betrunkenen Seemann aus Odessa zurückführt …
Die Übersetzung: Ein wenig zu deutsch
Vom Lektorat bzw. den Übersetzern hätte ich mir bei der Übersetzung etwas
mehr Mut zu ukrainischen Eigennamen gewünscht, denn auch durch die Sprache
wird eine Kultur transportiert. Warum heißen zum Beispiel die “Sammeltaxis”
in dem Roman nicht Marschrutki, warum wird die in der Stadt herausgegebene,
für die ganze Ukraine wichtige Zeitung mit dem deutschen Namen “Hohes
Schloss” erwähnt? Warum ist der Titel des Buches nicht “Jimi Hendrix live
in Lwiw” – der doch sogar ein schönes Wortspiel enthielte? Sicherlich, das
sind Details, aber ihnen steckt auch viel Authentizität, die man dem Leser
durchaus zumuten kann.
Die Stadt als ewiger Traum
Der Litauer Audrjus, auch einer dieser ehemals sowjetischen Hippies, sagt
in dem Roman auf San Francisco Bezug nehmend, das er selbst nie besucht
hat:
Zitat: Manche Städte gibt es nur, damit jemand davon träumen kann, dort hinzukommen. Das Träumen ist manchmal wichtiger als das Hinkommen …
Lwiw ist keine solche Stadt. Nach Lwiw sollte man fahren, nicht nur davon träumen. Aktuell sicherlich nicht, aber sobald der Krieg vorbei ist und man den Ukrainern durch seine Anwesenheit nicht zur Last fällt. Zu lange zögern sollte man jedenfalls nicht: Vor dem Hauptbahnhof ist in den letzten Jahren schon ein langes Stück Kopfsteinpflaster durch besser befahrbaren, aber sehr langweiligen Teer ersetzt worden. Und wenn man es nicht mehr rechtzeitig schafft: In Kurkows Roman immerhin werden uns die Kopfsteinpflaster von Lwiw für alle Zeiten erhalten bleiben.