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Ukraine  Eine Reise durch die Ukraine in 113 Gedichten  Ukraine

Paljanyzja

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Ukrainische Soldaten haben einen feindlichen Russen in Gefangenschaft genommen. Mit geknebelten Händen liegt er auf dem Rücken und rollt sich, wie eine Kuh greinend, die man morgens zu melken vergessen hat, im Dreck von der einen Seite auf die andere. Es scheint, als sei er blind oder geblendet, möglicherweise auch betrunken, auf jeden Fall kann er kaum ganz bei Sinnen sein. Seine Uniform sieht jämmerlich unprofessionell aus, als wäre er nur ein Gärtner, der seinen lebensfroh-frischgrünen Kittel gegen einen schäbigen, olivfarbenen Anzug getauscht hat. Aber nicht zum Gärtnern ist dieser nun schon harmlos gemachte Russe in die Ukraine gekommen – er ist gekommen, um zu schaden, zu zerstören, um zu töten. Was mag sein Hintergrund sein? Vielleicht ist er ein Strafgefangener, den Putin zur Bewährung, also als Kanonenfutter an die ukrainische Front gesendet hat? Vielleicht – aber wer möchte schon weiter darüber nachdenken? Dieser Mensch sollte nicht hier sein, sich nicht auf diesem betonierten Boden wälzen, nicht in der Ukraine sein. Kein einziger russischer Soldat sollte sich auf ukrainischem Territorium befinden. Oh, was gerade alles nicht sein sollte! Und doch ist es …

Die Ukrainer freuen sich über ihren Fang, aber sie sehen auch, dass er nicht besonders dick, nicht besonders wertvoll ist. Sie werden gleich das alte Spielchen mit ihm spielen – und da fragt ihn auch schon einer: “Hey, sag doch mal Paljanyzja”. Der Russe wälzt sich auf dem Boden dem Sprecher entgegen. “Hä? Was soll ich sagen?” – und man antwortet ihm lachend “Paljanyzja”. Na gut, denkt sich der Russe, wenn er sich in diesem Moment überhaupt etwas denkt, sage ich halt: “Paljanyza”, und dann denkt er vielleicht noch etwas weiter: Was soll es und was soll denn deswegen passieren? – und da sagt er das Wörtchen auch schon: “Paljanyza”. Die Ukrainer geraten in einige Belustigung, weil der Gefangene sich mit dieser Antwort auch sprachlich als Russe zu erkennen gegeben hat. “Siehst Du”, sagt einer sehr fröhlich zum Rest der Gruppe, “es funktioniert doch immer wieder”. Was so eine Silbe am Ende eines Wortes doch ausmachen kann!

Ich weiß, das ist eine alte und nur zu bekannte Geschichte – selbst Wassyl Shakespearenko hat seinen Hamlet schon vor Jahrhunderten sagen lassen: “Paljanyzja oder Paljanyza – das ist hier die Frage”. Nichts neues also geschieht unter der Sonne – und so müssen sich die Ukrainer heute wieder gegen die völkermordenden Horden aus dem Osten, die russische Anti-Zivilisation, den Krebs der gewalttätigen Unterdrückung zur Wehr setzen. Die Hoffnung dürfen sie nicht aufgeben, sie müssen furchtlos kämpfen und wir müssen sie dabei unterstützen, als wäre es unser Kampf, denn das ist er!

Und am Ende wird (fast) alles wieder gut …

© 2022 by Arne-Wigand Baganz

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