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Der rasende Rollstuhlfahrer

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Januar. Die ersten Wochen des Jahres ist es immer ein wenig voller auf den Hauptjogging-Strecken der Haupstadt. Man sieht neue Gesichter, aus denen häufig die guten Vorsätze für das neue Jahr schauen – oder nur der fromme Wunsch strahlt, wenigstens den zusätzlichen Weihnachtsspeck wieder loszuwerden. Je älter das Jahr wird, um so weniger sieht man dann von diesen neuen Gesichtern. Es ist jedes Jahr das gleiche. Ich ziehe brav meine Runden, falls und solange mich mein Körper lässt. Angenehm ist es nicht immer, so lauerte mir neulich im Park ein Rentner in seinem Rollstuhl auf. Ich sah aus der Ferne schon seine Augen blitzen: “Den hole ich mir”, mag er sich gedacht haben. Und so kam es auch: Ich bog auf den Hauptweg der Parkanlage, rechts ein kleines Flüsschen, links Plattenbauten, tapp-tapp-tapp-tapp, hinter mir recht bald der Rollstuhlfahrer, der sich an meine Fersen geheftet hatte. So ging bzw. lief und rollte es einige hundert Meter. Ich hoffte, der Rentner würde irgendwann abbiegen, mich überholen oder weit zurückfallen, aber er hatte es auf mich abgesehen. Irgendwann machte sich ein leichtes Seitenstechen bei mir bemerkbar, vielleicht hatte ich mich etwas treiben lassen, und ich verlangsamte mein Tempo ein wenig. Da kam der Rollstuhlfahrer von hinten angeschossen und hielt für ein paar Sekunden meine Höhe: “10 Kilometer [sic], nicht nachlassen”, rief er mir frech von der linken Seite zu. Ich ignorierte seine Unverschämtheit. Was fiel ihm, mich so beim Joggen zu belästigen? Was war er denn für einer? Wenn er eine weniger schmutzige Vergangenheit hatte, war er früher vielleicht “nur” Sportlehrer, vielleicht hat er aber auch zu DDR-Zeiten Menschen berufsmäßig verfolgt?! In solchen Angelegenheiten ist es häufig nicht verkehrt, vom Schlimmsten auszugehen. Diesen Leuten steht ihre Biographie ja geradezu ins Gesicht geschrieben, ihre Körpersprache bestätigt sie, man weiß daher schon aus hundert Metern Entfernung, mit wem man es zu tun bekommt. Sowieso sind es ja immer die Alten, die sich an die Jungen heften, selten ist es andersherum. Und wenn es einmal doch andersherum ist, dann denken sich die Jungen: der Alte hat vielleicht etwas Einfluss, etwas Macht und ein bißchen Geld, davon kann er mir gern einiges abgeben, ich habe nichts. Für solche Tauschbeziehungen habe ich mich persönlich nie interessiert, obwohl ich zugestehe, dass sie für die Literatur ein ergiebiger Stoff sein können.

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