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Das Leben nach dem Tod

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Es war stockdunkel, sonst hätte ich die beiden jungen Herren auf dem Bürgersteig sofort an ihren aus der Zeit gefallenen Anzügen erkannt. Miteinander diskutierend kamen sie mir entgegen. Der links gehende war deutlich schlanker als der andere, seine Beine konnten die auffallend helle Hose, die er trug, nicht ausfüllen, so dass sie ihn – ich möchte fast sagen – wild umflatterte. Als die beiden und ich die gleiche Höhe erreicht hatten, gab sich der Schlankere einen Ruck und er sprach mich an. Ich weiß nicht mehr, ob er noch “Hi” oder “Hallo” sagte oder gleich mit der schweren Tür ins Haus fiel: “Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?”.

Als ich die beiden von nahem sah, wusste ich ja sofort, welches Spielchen sie mit den Leuten spielen – noch bevor sie ein Wort gesagt hatten. Wahrscheinlich hatten sie mich schon von weitem gesehen und untereinander ausgemacht, ob sie mich ansprechen und wenn ja, wer von ihnen, mit welchem Spruch und wie es wohl ausgehen würde. Der Schlankere von beiden sah mich freundlich mit seinen neugierigen Augen durch die schwarze Brille an. Was würde nun passieren, nachdem er mir seinen bewegenden Anmachspruch mitgeteilt hatte?

Normalerweise sage ich solchen durch die Großstadt streifenden Pärchen recht schnell Danke und Auf Wiedersehen, denn was ist das denn für eine lustige Art, fremde Leute einfach so anzusprechen, um zu erfragen, ob sie an das Leben nach dem Tod glaubten. Sie hätten genauso gut versuchen können zu erkunden, ob ich meine, dass ich wollen kann, was ich will oder dass das Ei vor dem Huhn dagewesen sei. Immerhin haben sie mich nicht gefragt, ob ich schon einmal von Jesus Christus gehört habe, denn diese Frage höre ich seit zwanzig Jahren von diesen jungen Leuten, die gar nicht älter werden. Selbstverständlich habe ich schon einmal von Jesus gehört, allerdings auch von Ronaldo, Messi und sogar dem ziemlich zufälligen Bundeskanzler Olaf Scholz.

Ich will gar nicht abstreiten, dass die Frage, ob wir nach dem Tod weiterleben, interessant ist, nur hatte ich gerade wirklich keine Zeit, um sie mit den beiden Fremden zu diskutieren, wobei ich ja zudem wusste, dass sie gewissermaßen nicht an mir und meinen Antworten, sondern nur meiner armen Seele interessiert waren.

Ich erwiderte also knapp aber durchaus herzlich: ”Ja, – vielleicht”, winkte jedoch gleichzeitig mit der einen Hand zum Abschied und sagte mein Danke und Auf Wiedersehen. Gern hätte ich meine Antwort weiter ausgeführt, denn sie war – dessen war ich mir vollkommen bewusst – nicht gerade erschöpfend ausgefallen. Ich hätte vom Kreislauf des Werdens und Vergehens reden können, vom Gefangensein im Samsara, das bewirkt, dass wir nach dem Tod wieder ins Leben zurückkehren, wenn wir es nicht geschafft haben, uns zeitlebens von den Geistesgiften loszusagen, wenn wir es nicht geschafft haben, uns in das erlösende Nirvana zu retten. Aber das alles sagte ich nicht. Die beiden waren ja offensichtlich schon froh darüber, dass ich überhaupt etwas gesagt und sie dabei nicht angepöbelt oder gleich verprügelt und ihnen obendrein noch halb recht gegeben hatte, denn ich durfte ja davon ausgehen, dass sie ganz gewiss an ein Leben nach dem Tod glaubten. Und wie gesagt: Ich hatte es eilig.

Natürlich taten mir die beiden jungen Herren leid. Nicht so sehr, weil sie versuchten, das Licht und die Wärme des Herzens Jesu in den dunklen, kalten und vor allem gottlosen Osten zu bringen, sondern weil sie in eine Gemeinschaft geboren worden waren, die sie derart zum Missionieren auf die Straße schickte, wobei sie doch wahrscheinlich ganz andere Interessen hatten und diese Seelenfangmasche zwar eine nette Abwechslung zu all jenen Fremden ist, die einen nur anschnorren, die aber doch immer – nun, ich muss es ehrlich sagen, sonst fehlt diesem Text eine wichtige Ecke – ziemlich peinlich wirkt.

© 2023 by Arne-Wigand Baganz

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