“Transportpaule” (1977) ist der Debüt-Roman des damaligen DDR-Bürgers Paul
Gratzik (1935–2018), der in der Bundesrepublik durch den Film
“Vaterlandsverräter” (2011) von Annekatrin Hendel noch einmal einige
Aufmerksamkeit erregen konnte. Der Roman erschien zuerst nur im Westen, wo
er unter anderem in “Die Zeit” und “Der Spiegel” besprochen wurde; ganz
unbeachtet blieb er also nicht. Nachdem sich die Stasi [sic], bei der
Gratzik zu der Zeit als Inoffizieller Mitarbeiter geführt wurde und
berichtend tätig war, für die Publikation eingesetzt hatte, durfte der Roman schließlich auch im Osten Deutschlands erscheinen.
Zur Besprechung liegt mir hier die Ausgabe aus dem Rostocker Hinstorff
Verlag vor, sie ist auf etwas weniger als DIN A5 gedruckt, auf dem Umschlag
befindet sich eine großflächige, beidseitige, expressionistisch anmutende
Illustration, die dem Inhalt des Buches gerecht wird, die Seiten sind
bereits stark vergilbt.
Warum geht es nun im “Transportpaule”? Einen echten Plot würde ich dem Werk
absprechen, es handelt sich mehr um eine realsozialistische Odyssee, wir
dürfen dabei aber nicht an Homer denken, sondern müssen uns eine Art
chaotische Reise von Getränk zu Getränk vorstellen. Der Autor erzählt in
der Ich-Perspektive in oft scheinbar willkürlichen Sprüngen und in einem
recht eigenwilligen Stil von Skat, Frauen und Alkohol – kurz: dem “guten”
Leben in der DDR: so gut, wie es eben sein konnte, wenn man sich dafür
entschieden hatte, im Rahmen des gesellschaftlichen Systems Vorteile für
sich zu erlangen. Das alles scheint sehr stark autobiographisch gefärbt zu
sein: Der Erzähler ist zwar “nur” Tischler oder Transportarbeiter, trotzdem
bewegt er sich in künstlerischen Kreisen und befindet sich im Tross von
Willy, der als “ein Mann mit hoher Funktion in der Partei” eingeführt wird.
Manchmal wird erahnbar, warum das Buch in der DDR zuerst nicht erscheinen
konnte: Nicht alles ist glattgebügelt, so wird zum Beispiel von politischen
Witzen erzählt (ohne jedoch ihren Inhalt zu nennen), Ungerechtigkeiten bei
der Verteilung von Prämien werden beschrieben, selbst Westfilme werden kurz
spitzfindig erwähnt, wenn Gratzik von denen schreibt, die man zu sehen bekäme. Heute lachen wir vielleicht über diese Petitessen, aber damals war es
schon etwas gewagt, sich schriftlich so zu äußern.
Man merkt dem “Transportpaule” an, dass sein Autor schon einiges erlebt
hat. Letzterer will möglichst viel, möglichst alles sagen – in einem
einzigen schmalen Buch von knapp 200 Seiten. Das bekommt dem Werk nicht
immer. Manchmal wirken Stellen nicht genug ausgearbeitet, von Schlampigkeit
zu reden wäre allerdings zu hart, manchmal überhebt sich der Autor auch an
Literarisierungen, die ihm wie Holzbalken auf die Füße fallen, manchmal
gibt es ins philosophische gehende Einschübe wie den folgenden:
Zitat: Wer auch nur einen Tag in unserer Stadt zugebracht hat, lernt bei
uns das Kaffeetrinken. Der Lebensrhythmus der Menschen zwischen
ihren alten und neuen Mauern richtet sich nach ihren Kaffeepausen.
Sie trinken ihn süß, heiß und in ziemlichen Mengen. Man könnte, wäre
man Anarchist, die Menschen allesamt demoralisieren, würde man die
Zufuhr des geliebten Kaffees sperren. Die Arbeitermacht bei uns darf
sich Fehler erlauben, nur den nie, das Herbeischaffen des Kaffees auch
nur einen Moment lang zu vergessen. Setzten wir, daß zum jetzigen
Zeitpunkt in- und außerhalb unserer fleißigen Stadt für ich weiß nicht
wieviel Milliarden Mark Waren produziert werden, rechne ich das dem
Kaffee zu. Eine andere Rechnung, zum Beispiel in der Zeit Versamm-
lungen abzuhalten, da in unserem Möbelwerk Kaffee getrunken wird,
halte ich für falsch. Kaffeetrinken ist Arbeit.
Lohnt es sich heute noch, den “Transportpaule” zu lesen? Es kommt darauf an
– also ganz sicherlich nicht für jeden. Die meiste DDR-Literatur ist ja
schon dadurch verdorben, dass sie eigentlich nur Pädagogik darstellte, die
ein unmenschliches Ziel verfolgte: Hörige sozialistische Staatsbürger zur
formen. In diese Kategorie immerhin kann man das Buch nicht stecken, dafür
ist es zu unkonventionell. Es zeigt uns vor allem sehr eindrücklich, wie
sich der Autor in der DDR eingerichtet hat: Mit einigem war er sicherlich
unzufrieden, aber er hatte doch ein schönes und geradezu aufregendes Leben.
Dieses ging allerdings auf Kosten der Moral. Paul Gratzik gehörte
gewissermaßen zum Establishment der DDR – 1980 bekam er sogar den
Heinrich-Mann-Preis verliehen. Leute wie er, die ihre Haltung dem
persönlichen Vorteil geopfert haben, und sie stellten sicherlich die
Mehrheit, haben maßgeblich dazu beigetragen, dass das kommunistische Regime
so lange an der Macht bleiben konnte: Gebt dem Herren etwas Kaffee, Likör
und armenischen Cognac, ein paar Reisen hier und dort, ein paar Frauen,
etwas Aufmerksamkeit, druckt doch sein schwieriges Buch wenigstens irgendwo
in kleiner Auflage, und schon arbeitet er für “uns” und macht sonst keinen
größeren Ärger.
Paul Gratzik hat bis zum Ende seines Lebens an der DDR festgehalten. Die
Zusammenarbeit mit der Stasi hat er in den frühen 1980er Jahren jedoch
beendet, weil er zu der Ansicht gekommen war, dass die Stasi die DDR kaputt mache. Leider hat Gratzik nicht begriffen – und das zeigt die Trennung, die er
so gedanklich vorgenommen hat –, dass die Stasi integraler Bestandteil der
DDR gewesen ist: Ohne Stasi keine DDR – genau so, wie Gorbatschow nicht
verstanden hatte, dass es ohne den “Führungsanspruch” der kommunistischen
Partei mittelfristig keine Sowjetunion mehr geben würde.
Was man getan hat, kann man nicht rückgängig machen, das ist klar, aber so
lange man lebt und im Besitz seiner geistigen Kräfte ist, kann man
einsichtig werden und sein Bedauern äußern. Dazu aber gehört echte Größe,
die nicht jeder hat oder entwickeln kann: weder ein einfacher Paul Gratzik
noch ein Nobelpreisträger und Stalin-Verehrer wie Pablo Neruda. Das ist das
eigentlich Bedauernswerte an der ganzen Biographie des Autoren: dass er
nichts bedauert hat.