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Kohlenkutte

Paul Gratzik

Ich lese Schriftsteller am liebsten chronologisch, weil ich so ihrem Leben in seiner natürlichen Ordnung in Form literarischer Artefakte nachspüren kann; und daher ist es nicht verwunderlich, dass ich nach der Lektüre von ”Transportpaule” (1977) zum zweiten Roman von Paul Gratzik (1935–2018) griff: dem 1982 im West-Berliner Rotbuch Verlag erschienen ”Kohlenkutte”. Zwischen beiden Büchern liegen – oberflächlich gerechnet – also fünf Lebensjahre, und interessiert stelle ich deren Differenzen fest.

Der “Transportpaule” ist der Monolog eines Ich-Erzählers, der uns das angenehme Leben in der DDR, das durchsetzungsfähige Angepasste in Maßen durchaus haben konnten, wie ein auf einen Kleinbild-Streifen gebrachtes Wimmelbild schildert, wodurch letzteres eine romanfähige zeitliche Dimension erhält. “Kohlenkutte” nun ist ein deutlich reiferes Werk: Der Autor möchte nicht mehr alles auf einmal sagen, und dass er nicht gänzlich unbegabt ist, hat er auch schon bewiesen; er kann das Schreiben also gelassener angehen.
Ganz von der Ich-Perspektive mag sich Paul Gratzik aber nicht trennen, und so stellt er seinem Protagonisten Fritz Rodschinka sehr bald einen “Bruder Innerlich” zur Seite, der wieder Monologe führen darf. Rodschinka arbeitet irgendetwas, das mit der Herstellung von Blechen zu tun hat, er wird von Dresden nach Berlin delegiert und der Leser darf miterleben, was ihm dabei passiert, während er Frau und Kind daheim zurücklässt. Natürlich wird in Gratziks zweitem Roman genauso viel wie im ersten getrunken, allerdings fängt es erst einmal mit einem Minztee an, zu dem sich aber schnell Radeberger Bier und Gin gesellen …

Zitat:

»Denker sind keine Dichter«, schwatzte sie [die Kellnerin]
los, setzte sich mit halber Backe auf den
freien Stuhl neben ihn [Rodschinka] und plinkerte ihn
groß mit ihren natürlichen Wimpern an,
»und Arschlöcher sind keine Gesichter! Ich
werde den Gin nicht an Ihrem Tisch trinken.
Auch mir gefällt diese sagenhafte Schlamperei
in diesem Keller überhaupt nicht, aber es
nützt ja nichts, man wird, wie alle werden.
Darum verdufte ich bei der nächsten, besten
Gelegenheit nach Berlin und werde Stewardess. [...]«



Die autobiographischen Elemente stechen in “Kohlenkutte” erneut klar hervor – so ist ein Rumtopf ein wichtiges Utensil von Rodschinka; wer den Film “Vaterlandsverräter” (2011) von Annekatrin Hendel gesehen hat, erinnert sich vielleicht an die Kellerszene, in der Gratzik aus einem ebensolchen Topf sein Lieblingsgetränk schöpft: (kubanischen) Rum mit fruchtiger Einlage. Trinker sei der Rodschinka übrigens noch nicht, lässt ihn der Autor auf die Frage einer flüchtigen sexuellen Bekanntschaft antworten; der spätere Gratzik war ganz sicher einer der weniger harmlosen Sorte.

Die leise Kritik am DDR-Regime, die man in “Transportpaule” schon hören konnte, ist in “Kohlenkutte” etwas lauter geworden. Sicherlich auch deswegen ist das Buch erst zum Ende der DDR, nämlich 1989, erschienen. Gratzik bemüht sich jedoch im Nachhinein fast immer, diese Kritik wieder abzuschwächen, damit sie sich nicht zum Stellen der Systemfrage auswächst. Er wagt es allerdings sogar, die Staatssicherheit in seinem Buch zu erwähnen und dass man eigentlich niemandem trauen könne …

Die langen, bleiernen 1980er Jahre haben begonnen. “Kohlenkutte” ist eines ihrer Zeugnisse, die uns heute bleiben.

Ich möchte nicht zu viel von den Inhalten des dünnen Buches preisgeben, deswegen erwähne ich nur zwei Details: Zum einen beinhaltet es sehr explizit dargestellte sexuelle Szenen, die tatsächlich so weit gehen, dass beschrieben wird, wie beim Oralverkehr die letzten Spermien nach einer Ejakulation aus dem Samenstrang gesaugt werden; zum anderen ist die Bekanntschaft, die Rodschinka mit einem anderen Mann macht, der von zwei jüngeren Herren begleitet wird, bemerkenswert. Die Drei sind natürlich und offen schwul, bekennen aber, dass sie nicht so recht in diesen Sozialismus passen würden. Rodschinka ist unglücklich verheiratet, und entwickelt ein zumindest ambivalentes Verhältnis zu einem von ihnen. Auch hier werden wieder erotische Begebenheiten geschildert …

Den zweiten Teils des Buches, in dem die Handlung nach Berlin verlagert wird, dominieren Werkhallen-Szenen, ruppige, politisch unkorrekte Dialoge, sexuelle Träumereien, Gewalt, Unglück. Als Leser kann man sich schon fragen, warum der Autor einem das alles erzählt. Ist es Realismus, sah die Welt des Paul Gratzik tatsächlich so aus – oder wollte er nur literarisch Krawall schlagen, durch einen Skandal bekannt werden? Was auch immer die Motive gewesen sind: Die Figur des Fritz Rodschinka sieht und sieht doch nicht; sie bleibt gefangen in ihrer Höhle aus Arbeit, Alkohol, echtem und vorgestelltem Sex, eingesperrt hinter Mauern und Stacheldraht. Warum hat der Autor trotzdem zu diesem System gehalten? Darüber kann man nur spekulieren.

Zitat:

Rodschinka sagte: »Auch du weißt nicht, wozu wir
leben. Wir betreiben unser Handwerk fürs liebe Essen
und Trinken und solang die Geilheit uns treibt, ist da
noch so was wie Liebe. Und erst wenn uns das bedroht
wird, gehen wir vielleicht auf die Barrikaden.«
Der Fahrer sagte: »Und vor diesem vielleicht aber
der Ruf: Hannemann, geh du voran, ich hab Frau
und Kinder.«



Ich stelle abschließend die gleiche Frage wie in meiner Besprechung des “Transportpaule”:

Lohnt es sich, “Kohlenkutte” heute noch zu lesen? Das ist genauso schwer zu sagen. Paul Gratzik ist ein widersprüchlicher Charakter gewesen, seine Stimmungspalette reichte wohl von charismatisch über eigensinnig bis bösartig; als Autor ist er in der Geschichte der DDR-Literatur ein Unikum. Wer es etwas greller mag und ein historisches Interesse an der untergegangenen Republik im Osten hat, kann sicherlich nicht viel falsch machen, wenn er einige wenige Stunden seines Lebens auf das Lesen des zweiten Romans von Paul Gratzik verwendet.

Diese Rezension schrieb:
Arne-Wigand Baganz (2022-01-26)

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