Als Erich Honecker im Januar 1989 in einer Rede verkündete: "Die Mauer wird so lange bleiben, wie die Bedingungen nicht geändert
werden, die zu ihrer Errichtung geführt haben. Sie wird in 50 und auch in
100 Jahren noch bestehen, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht
beseitigt sind", da traf es viele DDR-Bürger wie ein Blitz, der ihre zarten Hoffnungen,
beflügelt von den lichten Signalen der gorbatschowschen Perestroika, nahezu
restlos einäscherte. Diese beiden Sätze Honeckers erscheinen im Rückblick
jedoch wie ein unheimlich effizienter Katalysator für den endgültigen
Kollaps der nur so genannten "demokratischen" deutschen Republik,
denn mussten sie nicht für jeden aufmerksamen Bürger bedeuten: "Von
diesem Land ist jetzt und für alle Zeit überhaupt gar nichts mehr zu
erwarten". Dass diese kompromisslose Botschaft angekommen war,
bestätigte wenige Monate später die einsetzende Massenflucht aus der DDR.
Im real-sozialistischen Paradies, das ja eigentlich eine rechte Hölle war,
wurde es leerer. So leer, dass im Sommer 1989 im DDR-Fernsehen wieder mit
eklatanter Häufigkeit das Gräuelbild vom imperialistischen Westen, in dem
hinter aufwendig geschönter Fassade das Massenelend herrschte, ausgestellt
wurde. Hat das zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch jemand ernst nehmen
können? Die Zusammenhänge von Propaganda und Massenflucht waren ja zu
offensichtlich.
"Wenn Leute unser Land verlassen, stehen wir mitunter sprachlos still,
und können es oft gar nicht fassen, dass wer mit uns nicht leben
will." - hieß es in einem offiziellen Lied in der Endzeit der DDR, das noch einmal
die ganze Blindheit des Regimes offenbarte. Es musste letztlich einsehen,
dass es nicht weiter ohne die Legitimation des Volkes herrschen konnte -
und dass es von ihm auch keine Legitimation mehr erhalten würde.
Der Zusammenbruch der DDR hat in diesem Jahr sein 20. Jubiläum. Für das
bundesdeutsche Verlagswesen ist das Anlass, einer möglichen Leserschaft
zahlreiche Neu-Publikationen zum Thema anzubieten. Darunter befindet sich
auch der vom Historiker und Politikwissenschaftler Klaus-Dietmar Henke
herausgegebene Sammelband "Revolution und Vereinigung 1989/90", der aus 37 Beiträgen von Historikern und zeitgeschichtlichen
Partizipienten sowie einem Vorwort besteht. Bei einer so umfänglichen
Sammlung ist es natürlich eine Schwierigkeit, durchweg herausragendes
anzubieten, daher muss es den Leser nicht wundern, wenn er in dem Buch auf
einige eher akademisch-lustlose, schematische Beiträge stößt, die lieber
auf kreative Fragestellungen verzichten. Aber es gibt auch Lichtblicke,
beispielsweise "Der Untergang der Staatspartei" (Walter Süss),
"Zwischen Misstrauen und Hoffnung: Polen und die deutsche
Vereinigung" (Klaus Ziemer), "Die Intellektuellen, die friedliche
Revolution und die Debatte um die Vereinigung" (Roger Engelmann),
"Die Sowjetunion und die deutsche Einheit. Warum Moskau die DDR
aufgab" (Michael Lemke) und "Die Kosten der Einheit. Eine
Bilanz" (Gerhard A. Ritter). Über die Zweiteilung des Bandes in
"Krise und Aufbruch in der Deutschen Demokratischen Republik" und
"Die Reaktion der Bundesrepublik und der Mächte" hinweg wird -
und hier kommt der Umfang positiv zum Tragen - eine erstaunliche Bandbreite
politischer und wirtschaftlicher Wende-Themen samt Quellen-Nachweis
abgedeckt.
Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte hat gerade erst angefangen und hierzu
leistet "Revolution und Vereinigung 1989/90" einen annehmbaren
Beitrag, der massiv aber keineswegs erschöpfend ist, da das Schreiben von
Geschichte nie zum Abschluss kommt, so lange neue Menschengenerationen
heranwachsen.
Trotz aller geschichtlichen Betrachtung sollte unser Blick auf das Heute
jedoch nicht zu flach geraten: Worin besteht das Erbe der DDR? Wie hat die
Diktatur die Menschen nachhaltig geprägt / deformiert? Was treiben die
Täter von einst, was die blutroten Nachlassverwalter...
In unserem Nachbarland Polen wird die Debatte um die Hinterlassenschaften
des kommunistischen Experiments wesentlich engagierter und freier geführt.
Auf dem deutschen Buchmarkt fand Sie vor einiger Zeit Ausdruck im
Sammelband "Anti-Totalitarismus. Eine polnische Debatte", hrsg.
von Pawel Spiewak. Eine solche Redebereitschaft würde ich mir für unser oft
so schwieriges Deutschland auch wünschen. Ich weiss: Ein durchaus
hoffnungloser Wunsch.
Henke, Klaus-Dietmar (Hrsg.)
Revolution und Vereinigung 1989/90
Als in Deutschland die Realität die Phantasie einholte
dtv premium
735 Seiten
Originalausgabe, August 2009
ISBN 978-3-423-24736-8
EUR 19,90