In "Lolita" (1955) erhält der Leser einen Einblick in die Odyssee
des ca. 40-jährigen Ich-Erzählers mit dem Pseudonym Humbert Humbert - eine
Irrfahrt, die er mit der minderjährigen Waise Dolores Haze, genannt Lolita,
in einem Auto quer die Vereinigten Staaten von Amerika unternommen hat.
Humbert Humbert ist Päderast, seine sexuelle Deviation richtet sich auf 12
bis 15-jährige Mädchen auf dem Wege zum Frausein. Er ist von diesen
unschuldigen Erscheinungen besessen, nennt sie Dämonkinder und Nymphchen,
die ihn durch ihre strahlenden Blicke verführen - und eines Tages, als er
auf Wohnungssuche ein Zimmer zur Untermiete besichtigt, trifft er auf die
kleine 12-jährige Lolita, die bei ihrer Mutter in dem selben Haus wohnt.
Obwohl ihm die Wohnung nicht gefällt, zieht er ein und sucht immer wieder
zaghaft die Nähe zu Lolita, aber es bietet sich ihm keine günstige
Gelegenheit, seiner abnormen Neigung freien Lauf zu lassen. Derweil
verliebt sich Lolitas spröde und tiefgläubige Mutter in Humbert und stellt
ihn eines Tages mittels eines Briefes vor die Wahl: Entweder, er müsse
sofort ausziehen, oder er erwidere ihre Liebe und heirate sie. Humbert
entscheidet sich für die letzgenannte Option, um seine Lolita nicht zu
verlieren.
Lolitas Mutter stirbt eines Tages bei einem Autounfall - ein Glücksfall für
Humbert, der Lolita nun ganz für sich haben kann und mit ihr fortan von
Hotel von Hotel durch das weite Land zieht und sich seine sexuellen Wünsche
erfüllen lässt. Versuchte Humbert seinen Trieb anfangs noch zu
rechtfertigen, indem er immer wieder Fakten anführte wie "Mädchen im
Bundesstaat x werden im Alter von y Jahren geschlechtsreif" oder
Beispiele aus der Geschichte, in denen sich alte Säcke ungestraft an jungen
Dingern vergingen - je länger die Odyssee dauert, um so weniger kümmert er
sich um die Moral und die Verwerflichkeit seines Tuns. Die ständige Furcht
vor dem Entdecktwerden und der Strenge des Gesetzes treibt ihn jedoch in
die Paranoia, zerrüttet seine Wahrnehmung durch lebendige Halluzinationen.
Die Geschichte wird schwammig, gipfelt in einem Mord und einer
anschliessenden Geisterfahrt ...
Als "Lolita" zum Ende der 50er Jahre erschien, hat es einen
gehörigen Skandal ausgelöst - und seinen Autoren weltberühmt gemacht. Das
Buch ist längst verfilmt worden und zum Klassiker avanciert, wenn aber, wie
in der mir vorliegenden Ausgabe von rowohlt, auf dem Buchrücken steht, dass
es sich bei "Lolita" um einen der großen Liebesromane der
Weltliteratur handelt, muss ich dem kräftig widersprechen. Humberts
Zuneigung zu Lolita ist mitnichten eine Liebe. Sie ist "nur" ein
entarteter Trieb, der das ganze Leben eines jungen Mädchens rücksichtslos
zerstört. Humberts Zuneigung zu Lolita bleibt auf das rein sexuelle und
physische beschränkt (er rechnet sich schon im Kopf aus, wann sie
"verwelkt" sein und seinen Ansprüchen auf unschuldiges Fleisch
nicht mehr genügen wird). Sie ist ein von ihm abhängiges Kind, er ist ihr
sexueller Ausbeuter, der sich abmühen muss, sie durch diverse Zerstreuungen
und Versprechungen bei Laune und sie sich durch finstere Drohungen gefügig
zu halten. Es ist eine "Beziehung" von sehr einseitigem Nutzen
für Humbert, der sein Glück bald nicht mehr genießen kann, da ihn, wie oben
bereits geschildert, die Paranoia zerfrisst.
Es ist sicher ein streitbarer Punkt, ob es von Vladimir Nabokov eine
moralisch vertretbarer Einfall war, seine Geschichte in der
Ich-Perspektive, die keine Eingriffe eines mehr-wissenden Erzählers
erlaubt, anzulegen. Im Nachwort schildert er, wie ihn die Idee zu dem Roman
über Jahre verfolgt hat, wie sich aus verschiedenen Prototypen das nun
vorliegende Endprodukt entwickelte, wie er sich das Buch vom Leib schreiben
musste. Über den Sinn und die Absichten, die sich hinter dem Roman
verbergen, weiss er nur zu sagen, dass er es allein der Kunst willen getan
hat.
Was bleibt noch zu sagen? "Lolita" ist gut geschrieben, nervt
manchmal aber durch die vielen französischen Aussprüche, die es enthält.
Der Roman folgt ganz der mächtigen russischen Erzähltradition und erinnert
einen immer wieder an Dostojewskis "Schuld und Sühne", auch wenn
er nicht an seine Größe heranreichen kann - durch sein kontroverses Thema
jedenfalls ist "Lolita" imstande, auch gut 50 Jahre nach seinem
Ersterscheinen für einiges Gerede zu sorgen. Der Leser sollte sich durch
die Ich-Erzählweise aber nicht dazu verleiten lassen, allzuviel Sympathie
mit der Figur des Humbert Humbert zu hegen. Er hat ein irreversibles,
selbstsüchtiges Verbrechen begangen, das auch durch dafür gerichtlich
verhängte Höchststrafen nicht an Schwere verliert.
Die für mich interessanteste Stelle des Buches hat nichts mit seinem
eigentlichen Thema zu tun:
"Ich habe oft beobachtet, dass wir dazu neigen, unsere Freunde mit der
nämlichen Wesensbeständigkeit auszustatten, die literarische Gestalten in
der Vorstellung des Lesers erlangen. [...] Welche Entwicklung dieser oder
jene Charakter zwischen den Buchdeckeln auch durchmacht, sein Schicksal ist
in unseren Köpfen ein für alle Mal besiegelt, und ebenso erwarten wir von
unseren Freunden, dass sie dieser oder jenen logischen und konventionellen
Schablone treu bleiben, auf dir wie sie festgelegt haben. Nie wird X die
unsterbliche Musik komponieren, die nicht zu den zweitklassigen
Symphonienen passt, an die er uns gewöhnt hat. [...] In unseren Köpfen ist
alles säuberlich zurechtgelegt, und je seltener wir eine bestimmte Person
sehen, desto befriedigender ist es, sich davon zu überzeugen, wie gehorsam
sie sich an den Begriff hält, den wir uns machen, so oft wir von ihr hören.
Jede Abweichung von dem Schicksalsweg, den wir für sie ausgearbeitet haben,
empfinden wir nicht nur als unnormal, sondern auch als unmoralisch. Es wäre
uns lieber, wir hätten unseren Nachbarn, den Würstchenbudenbesitzer im
Ruhestand, nie gekannt, als zu erfahren, dass er gerade die größte Dichtung
seiner Zeit hervorgebracht hat."